Warum die Welt der Logistik in 10 Jahren anders aussehen wird
Neunzig Kilometer südwestlich von Hangzhou, in der ostchinesischen Provinz Zhejiang, liegt der Kreis Tonglu. Eine reizvolle Gegend, die es aber wirtschaftlich lange sehr schwer hatte. Doch als vor fünfundzwanzig Jahren der große digitale Wandel in China begann, veränderte sich auch die malerische, aber arme Region. Mit dem Aufstieg von Alibaba entstanden in Tonglu zeitgleich vier Express- und Logistikunternehmen: STO, YTU, ZTO und Yunda. Sie sind heute in China als Kuaidi-Tonglu-Bande bekannt und für mehr als die Hälfte aller Zustellungen im Reich der Mitte verantwortlich.
Das chinesische E-Commerce-Wunder ist eng verflochten mit der rasanten Entwicklung der chinesischen Logistikbranche. Was vor zwanzig Jahren für unmöglich gehalten wurde, ist heute Realität: Überall in China existieren Lieferoptionen für den gleichen oder nächsten Tag. Und die Tonglu-Bande hat daran einen großen Anteil. Zusammen mit Alibaba und anderen Logistikunternehmen gründeten sie 2013 das China Smart Logistics Network, das später unter dem Namen „Cainiao“ bekannt werden sollte.
Das Ziel der Plattform: Der Aufbau eines Datenökosystems, welches Logistikanbieter, Lager und Distributionszentren auf Datenebene zusammenführt und effizient und effektiv organisiert. Mittlerweile besitzt Alibaba 63% am Unternehmen und investiert rund 100 Mrd. CHY (14,5 Mrd. USD), um überall in China Lieferungen am nächsten Tag zu ermöglichen. Global strebt der Online-Riese ein Drei-Tages-Fenster an.
Das Interessante an Cainiao ist, dass Alibaba kein Investment-Portfolio geschaffen hat und Logistikunternehmen besitzt oder aufkauft, sondern “nur” auf die Integration von Daten der Unternehmen im Ökosystem setzt. Indem Daten über Bestellungen, Lieferstatus oder Kundenfeedback aggregiert, harmonisiert und analysiert werden, soll jedes Mitgliedsunternehmen effizienter arbeiten können und die Servicequalität verbessern können. Cainiao hat sich durch diesen Ansatz zu einer Industrieplattform für den chinesischen Internethandel und die Logistik entwickelt. Parallel dazu experimentiert Alibaba mit neuen Formen der Zustellung, der Verschmelzung von Online- und Offline-Einkaufserlebnissen und effektiveren Fulfillmentmethoden. Und mittendrin: Die Datendrehscheibe von Cainiao.
Knapp 9.300 km entfernt ist der Konzern beheimatet, der sich als einziges westliches Unternehmen mit Alibaba messen kann: Amazon. Der US-Riese mit Sitz in Seattle ist heute der global führende Third Party Logistikdienstleister (3PL) und hat parallel die größte vertikal integrierte B2C-Lieferkette der Geschichte aufgebaut. Das Ziel: die Kosten kontinuierlich reduzieren und das Kundenerlebnis immer besser kontrollieren. Das Resultat: ein Betriebssystem für den modernen Internethandel.
Egal ob Produkte, eingehender oder ausgehender Transport, Lagerhaltung, Bestände, E-Commerce, Payment, Pick’n’Pack, Rückgabe oder stationärer Einzelhandel. Amazon setzt mittlerweile überall auf Plattformen. Hinzukommen mannigfaltige Experimente wie Amazon Flex, Relay, FBA Onsite oder Shipping with Amazon und massive Investitionen: Mehr als 175 Fulfillmentzentren betreibt Amazon, 70 geleaste Flugzeuge sollen bis 2021 in der Luft sein, 30.000 Amazon-gebrandete Lieferwagen fahren umher, 20,000 gebrandete Trailer werden gezogen und Amazon hat bereits eine NVOCC-Lizenz. Ferner sorgen diverse Investitionen in Logistik-Startups dafür, dass mehr als die Hälfte aller Amazon-E-Commerce- und Marketplace-Pakete in den USA auch von Amazon selbst ausgeliefert werden. Morgan Stanley geht davon aus, dass Amazon circa 2,5 Mrd. Pakete pro Jahr weltweit bewegt. Amazon selbst spricht von 3,5 Milliarden Paketen im eigenen Netzwerk für die letzte Meile. Es ist nur eine Frage von Jahren, bis Amazon in diesem Bereich UPS (5,5 Mrd. Pakete und Dokumente pro Jahr weltweit) und FedEx (3,4 Mrd. Pakete und Dokumente pro Jahr weltweit) überholt.
Und es ist kein Ende in Sicht. Amazon hat mit dem Elektrofahrzeughersteller Rivian einen Vertrag über den Bau von 100.000 Lieferwagen abgeschlossen. Zum Vergleich: UPS betreibt 125.000 Fahrzeuge in seiner Flotte. Zudem befasst sich Amazon weiterhin ernsthaft mit autonomen Robotern für die letzte Meile und hat im August in den USA eine Lizenz für die drohnengestützte Auslieferung beantragt. In England öffnet sich Amazon Logistics für andere Online-Händler. Und das neueste amerikanische Experiment sind Mini-Fulfillmentzentren, mit denen der Konzern noch näher an seine Kunden heranrücken möchte. Sie ermöglichen die Lieferung von rund 100.000 Produkten — von Ladegeräten bis hin zu Hundefutter — in fünf Stunden oder weniger. Und in Deutschland? Bedingt durch die verstärkte Eigenzustellung von Amazon in Deutschland hat die Deutsche Post ihr Paketzentrum neben dem Amazon Logistikzentrum in Graben nahe Augsburg im März geschlossen. Mit zunehmendem Fokus auf die Versorgung der letzten Meile ist es im Grunde nur eine Frage der Zeit, bis Amazon auch hier die Nr. 1 ist.
Amazon sorgt sich nicht nur um die Kontrolle auf der letzten Meile, sondern hat auch eine Dateninfrastruktur für den Internethandel geschaffen, auf der Amazon selbst, aber auch anderen Anbietern, komplementäre Dienste, Services und Technologien in einem Ökosystem entwickeln können. Amazon deckt als Orchestrator und Plattforminhaber somit die Bedürfnisse einer ganzen Kundengruppe über ein Netzwerk von verschiedenen und sich ergänzenden Anbietern umfassend ab. Und Alibaba agiert im Kern ähnlich. Während klassische Logistikanbieter ihre Distributionslogistik auslasten wollen, denken Amazon und Alibaba Logistik von der letzten Meile her und optimieren sie darauf.
Die Plattformstrategie beider E-Commerce-Giganten verändert Lieferketten radikal. Durch ihr Handeln zwingen sie den Logistikdienstleister dazu, umzudenken, innovativ zu sein und zu investieren. Zunehmend geht es um die informationsgestützte Orchestrierung von Logistikketten und Lagerhallen, von LKW, Umschlagplätzen und anderen relevanten Assets. Im Digitalen, wie im Analogen. Die Fähigkeit, technologisches Know-how zu nutzen, um riesige vernetzte Vertriebsnetze zu schaffen, ist dabei entscheidend. Auch deshalb, weil Amazon und Alibaba erkannt haben, dass Fähigkeiten wie die Lieferung am selben Tag, die Lieferung in städtischen Ballungsräumen oder die Drohnenlogistik leicht zu akquirieren sind. Lösungen gibt es am Markt im Überfluss. Der wirkliche Gewinn und Vorteil liegt in datengestützten Infrastruktur-Plattformlösungen wie Cainiao oder Fulfillment-by-Amazon.
Ein Blick in das Innovationsportfolio der Internetriesen zeigt, dass sie sich damit bestens auskennen: Amazon Web Services von Amazon — führender internationaler Cloud Computing Anbieter und Goldesel von Amazon — oder Ant Financial von Alibaba — das am höchsten bewertete Finanztechnologie-Unternehmen der Welt, welches Bezahldienste und Finanzdiestleistungen wie z.B. Alipay, die weltweit größte Plattform für mobile und Online-Zahlungen, sowie Yu’e Bao, den weltweit größten Geldmarktfonds, anbietet — demonstrieren, wie sich durch Plattformen ein Vorsprung herausarbeiten lässt, der kaum noch aufzuholen ist. Mittlerweile bearbeiten die Plattformen Milliarden von Transaktionen pro Tag. Sie skalieren zügig und sind aufgrund ihrer daten- und schnittstellengetriebenen Strategie innerhalb kürzester Zeit an neue Märkte anpassbar. Es verwundert daher nicht, dass vor allem Alibaba derzeit in Schwellenmärkte expandiert, wo wenige bis keine Standards existieren.
Alibaba und Amazon hoffen, in den nächsten Jahrzehnten Milliarden von Verbrauchern auf der ganzen Welt zu bedienen. Gleichzeitig wollen sie Millionen von Unternehmen die Möglichkeit geben, mit ihnen zu wachsen. Nicht geringer sollte daher die Ambition einer jeden Branche ausfallen, in der die ehemaligen E-Commerce Unternehmen heute disruptiv wirken. In Zukunft wird sich jede Branche mit einem engmaschigen Netz aus digitalen und analogen Funktionen auseinandersetzen müssen. Es ist daher nun an der Zeit, über geteilte und gemeinsame digitale Infrastrukturen in allen Branchen zu sprechen, welche Grundlagen für gemeinschaftliches Wirtschaften und systemische Effizienzen schaffen. Nur so kann man bestehenden Plattformen die Stirn bieten.
Dieser Artikel ist zuerst im Rahmen einer Serie rund um Digitalisierungsdynamiken und deren Auswirkungen auf die Logistik in der DVZ erschienen und dann auf dem Blog von Axel Springer hy.
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