March 10, 2020

Was digitale Ökosysteme vom Wood Wide Web lernen können

Richtig gelesen. Wood Wide Web, das soziale Netzwerk des Waldes: Forscher haben entdeckt, dass sich unter jedem Wald und unter jedem Stück Holz ein komplexes unterirdisches Netzwerk aus Wurzeln, Pilzen und Bakterien befindet, welches Bäume und Pflanzen miteinander verbindet. 60% aller Bäume auf der Welt stehen über eine symbiotische Pilz-Baum-Verbindung mit ihren Nachbarn in Kontakt, was wesentlich zur Stärkung lokaler Waldökosysteme und zur Regulierung des Klimas auf globaler Ebene beiträgt.

Shinrin-yoku, Taunus, 2018Shinrin-yoku, Taunus, 2018

Das magisch anmutende und baumverbindende Mykorrhizanetz - Mykorrhiza ist selbst eine Kombination aus dem griechischen Wort für Pilz (μύκης) & Wurzel (ῥίζα) - besteht aus hauchdünnen Pilzfäden, die sich kilometerweit durch den gesamten Waldboden erstrecken können. Es sorgt für den Austausch von Wasser, Kohlenstoff, Stickstoff und anderen Nährstoffen. Es kann aber auch Informationen und Botenstoffe übertragen. Es ist nicht nur ein Kabel, sondern eine aktive Filter und Schaltstelle. Bäume verabreden sich über hunderte Kilometer gleichzeitig zu blühen. Gefährdete Bäume senden Nachrichten an ihre Nachbarn, um sie vor Krankheiten und Giftstoffen zu schützen. Das Netzwerk ermöglicht es erwachsenen Bäumen, Energie über das Wood Wide Web an Sprösslinge oder Bäume in Not senden. Teilweise sind ältere Bäume sogar so gut vernetzt, dass ihre Stümpfe nach der Rodung weiterleben, da sie ausreichend Energie von benachbarten Bäumen erhalten. Im Gegenzug erhält das Pilz-Netzwerk Energie in Form von Zucker für seine Kommunikations- und Botendienste. Und nicht zu wenig. Bis zu einem Drittel der Zuckerproduktion tritt ein Baum als Sold ab, um sich den Dienst des Netzwerkes zu sichern.

Ökosysteme sind mehr als die Summe ihrer Teile

Das Ökosystem Wald zeigt, wie wichtig eine biologische Vielfalt, Vernetzung, Kommunikation und Interaktion zwischen den Arten ist. Selbst einzelne Bäume in der Stadt spielen bereits eine wichtige infrastrukturelle Rolle. Aber erst eine dichte, natürliche Biodiversität erhöht die Produktivität, Widerstandsfähigkeit und Vitalität der ökologischen Ökosysteme. Schließlich ist die größte Ressource eines Ökosystems sein eigenes Netzwerk. Es unterstützt und schützt das gesamte System vor äußeren Einflüssen. Ein Ökosystem ist daher immer mehr als die Summe seiner Teile. Bäume brauchen den Wald, um sich vor Stürmen zu schützen, das richtige Mikroklima zu schaffen und vor Angriffen zu warnen. Allein kommen Bäume nicht weit. Zwar werden auch alleinstehende Bäume alt, sie sind aber anfälliger für Krankheiten und Gefahren. Erst im Verbund erreichen sie Legendenstatus und erreichen ein Alter von 500 Jahren und mehr.

Die Bedeutsamkeit von Biodiversität im Ökosystem wird besonders deutlich, wenn Arten nacheinander aus ihnen entfernt werden. Kaskadeneffekte und nichtlineare Auswirkungen können die Folge sein. An einem bestimmten Punkt nimmt die Lebensfähigkeit des Ökosystems so stark ab, dass der weitere Artenverlust beschleunigt wird. Es kommt zu negativen Netzwerkeffekten. Jede Art in einem gesunden Ökosystem ist daher auf ihre eigene Art und Weise wichtig. Verliert das Ökosystem eine davon, muss nicht zwingend etwas passieren, aber das Ökosystem wird geschwächt. Verliert es mehrere Arten, versagt irgendwann das ganze System.

Negative Netzwerkeffekte können zum Kollaps von Ökosystemen führen

Vor knapp eintausend Jahren wuchsen auf der Osterinsel riesige subtropischen feuchte Palmwälder, voll von uralten Palmen, dichten Sträuchern, hohen Farnen und satten Gräsern. Um 1010 begann jedoch eine jahrzehntelange Abholzung, ausgelöst durch den menschlichen Siedlungsdrang. Man schätzt, dass in dieser Zeit mehr als zehn Millionen Palmen auf der Insel gefällt wurden. Der Verlust des Palmenwaldes, der die Kulturpflanzen vor dem ständig wehenden Wind und vor Austrocknung geschützt hatte, führte zu einer umfangreichen Bodenerosion. Die Folge waren schwache und ausgefallene Ernten. Innerhalb weniger Jahre sank die Bevölkerungsdichte rapide und das Ökosystem wurde irreversibel zerstört.

Die Osterinsel, ohne Palmwald, WikipediaDie Osterinsel, ohne Palmwald, Wikipedia

Man braucht jedoch gar nicht so weit in die Vergangenheit oder in ferne Länder reisen. Mitteleuropa ist ein Paradebeispiel für suboptimale Ökosystemstrategien. Über viele Tausend Jahre war Holz der wichtigste Rohstoff der Menschen. Es wurde für alles gebraucht. Deshalb lag der deutsche Waldbestand vor 600 Jahren weit unter unserem heutigen Niveau. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Notbremse gezogen und die Wiederaufforstung unserer Wälder mit schnell wachsenden Fichten begonnen.

Heute werden Bäume gefällt, wenn sie etwa 100 Jahre alt sind. Das Problem ist, dass eine Buche erst mit 80 bis 150 Jahren geschlechtsreif wird. Da viele unserer Wälder aus wenigen Arten bestehen und zu früh geerntet” werden, kann sich kein funktionierendes und nachhaltiges Ökosystem entwickeln. Außerdem haben die Bäume zu wenig Zeit, um eine Partnerschaft mit Pilzen einzugehen und dem Netzwerk des Waldes beizutreten. Ihnen fehlt daher die Fähigkeit, Informationen zu senden oder zu empfangen. Die Folge: Der Wald ist ungesund, anfälliger für Schädlinge und insgesamt unproduktiver. Im Gegensatz dazu ist ein natürlich gewachsener Urwald mit einer hohen Biodiversität viel produktiver. Wissenschaftler und Förster fordern daher, dass Bäume erst viel später gefällt werden sollten und plädieren für forstfreie Zonen, in denen der Wald tun darf, was er will. Weniger ist in diesem Fall mehr.

Was digitale Ökosysteme vom Wood Wide Web lernen können

Das Wood Wide Web beschreibt eine Gemeinschaft von Akteuren, die als System interagieren und deren Wertschöpfung auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet ist. Es braucht ein paar Jahrzehnte, bis sich ein nachhaltiges Netzwerk und System entwickelt. Verbindungen zwischen Bäumen und Pilzen formen sich langsam. Sie starten als isolierte Cluster. Aber wenn sich die Cluster miteinander verbinden, kann eine unscheinbaren Verbindung zu einer Phasenverschiebung und einem neuen dominanten System führen.

Natürliche Ökosysteme setzen auf Kommunikation und nehmen sich Zeit dafür. Natürlich geht es auch um Wettbewerb, aber die Natur hat erkannt, dass Kollaboration für das Gesamtsystem von großer Bedeutung ist. Wettbewerb schafft in der Regel Knappheit, die wiederum zur Rechtfertigung des Wettbewerbsverhaltens genutzt wird. Gesunde ökologische Ökosysteme schaffen keine Knappheit als solche. In ihren Grenzen schaffen sie es Überfluss für alle zu schaffen. Die Kollaboration schafft gemeinsamen Überfluss, was wiederum zu mehr Zusammenarbeit führt. Netzwerke und das richtige Zusammenspiel der Akteure sind für das Überleben von Ökosystemen unerlässlich. Je gesünder das gesamte System ist, desto mehr Überfluss wird durch gesunde Ökosystemfunktionen erzeugt. Bäume, Pflanzen und Pilze können nach heutigem Wissensstand daher nicht mehr getrennt betrachtet werden. Genauso wie man Uber, den Orchestrator des von ihm geschaffenen Ökosystems, nicht getrennt von den Dienstleistern, den individuellen Fahrern, den Smartphones und den Kommunikationsdiensten im Hintergrund besprechen kann. Das Wood Wide Web ist genauso ein komplexer Markplatz und eine Kommunikationsplattform, wie es Amazon in Ökosystem E-Commerce ist.

Interessant ist auch, dass Ökosysteme oft nur lokal erfolgreich sind. Die Bildung von Mykorrhizennetzwerken ist kontextabhängig und kann durch Faktoren wie Bodenfruchtbarkeit, Ressourcenverfügbarkeit, Störungen und saisonale Schwankungen beeinflusst werden. Peter Wohlleben zeigt dies in seinem Bestseller Das geheime Leben der Bäume am Beispiel der amerikanischen Redwoods, welche nur in Kalifornien ihre stattliche Größe erreichen. Obwohl Mammutbäume auch in Europa gedeihen, erreichen sie bei weitem nicht die Masse und Klasse ihrer amerikanischen Kollegen.

Mykorrhizalnetzwerk und WurzelgeflechtMykorrhizalnetzwerk und Wurzelgeflecht

Ähnlich verhält es sich bei digitalen Ökosystemen. Alibaba oder das chinesische Versicherung- und Finanzdienstleistungsunternehmen Ping An haben sich in den letzten Jahren zu erfolgreichen Ökosystemorchestratoren in diversen Industrien entwickelt. Beide Unternehmen bieten eine skalierbare Infrastruktur, die Kommunikation, Interaktion und Transaktionen innerhalb der Branchen, aber auch zwischen den Branchen und ihren jeweiligen Dienstleistungen gewährleistet. Sind die Modelle auf den europäischen Markt übertragbar? Die Antwort lautet: Mit Abstrichen. Unsere Gesellschaft, unser Markt, unsere Technologie und unsere Politik sind grundlegend verschieden. Einzelne Anwendungen oder Teile der Infrastrukturen sind daher sicherlich übertragbar, die gesamten Ökosysteme sind jedoch nicht kopierbar.

Egal ob natürlich oder digital. Ökosysteme entwickeln sich dynamisch und erreichen nie einen statischen Zustand. Sie orchestrieren kontinuierlich einen Mehrwert für ihre Akteure. Sie decken die individuellen Bedürfnisse über ein Netzwerk verschiedener und sich ergänzender Anbieter umfassend ab. Sie halten die Eintrittsbarrieren für potentielle neue Teilnehmer niedrig, schaffen aber gleichzeitig hohe Austrittsbarrieren, weil Abhängigkeiten über die Kernprodukte und Dienstleistungen hinaus entstehen. Die Bedürfnisse von Bäumen, Pflanzen, Pilzen oder Kunden werden ganzheitlich in funktionierenden Ökosystemen gelöst. Darüber hinaus wird jeder Teilnehmer entsprechend seinem Beitrag zum Ökosystem belohnt. Dies führt mittelfristig zu Netzwerkeffekten, die zur Robustheit des Ökosystems beitragen. Auch, weil neu entwickelte Angebote auf Problemen im Ökosystem basieren und nicht nur künstliche Lösungen abbilden.

Ja, der Wald ist extrem träge. Die Bäume und ihre Community können sich nicht so schnell an neue Bedingungen anpassen. Aber es schadet nicht, daran zu denken, dass Ökosysteme von den Kunden als Ganzes wahrgenommen werden. Und nur organisch gewachsene Ökosysteme werden als qualitativ hochwertig angesehen.

Bill Gates sagte einmal, dass eine Plattform nur dann eine Plattform ist, wenn der wirtschaftliche Wert aller, die sie nutzen, den Wert des Unternehmens, das sie geschaffen hat, übersteigt. Es scheint, dass die natürlichen Ökosysteme dies verstanden und als eine grundlegende Dynamik in ihren Statuten verankert haben. Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel an den Bäumen und Wäldern nehmen. Vielleicht sollten wir einfach etwas mehr Zeit und Chaos für die Entwicklung digitaler Ökosysteme einräumen.


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