Genossenschaften als Gegenmodell zu Plattform-Giganten
In den vergangenen Jahren haben Forscher entdeckt, dass sich unter jedem Wald ein komplexes unterirdisches Netzwerk aus Wurzeln, Pilzen und Bakterien befindet, das Bäume und Pflanzen miteinander verbindet. Knapp 60 Prozent aller Bäume auf der Welt stehen über eine solche symbiotische Pilz-Baum-Verbindung mit ihren Nachbarn in Kontakt. Dieses soziale Netzwerk des Waldes ist ein Vorbild für moderne, datengetriebene Wertschöpfungsökosysteme. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die gemeinschaftliche Wertschöpfung größer ist als die Summe der Einzelteile.
Doch was haben Wälder und Ökosysteme mit der digitalen Wirtschaft und der Logistik zu tun? Der Aufstieg amerikanischer und chinesischer Plattformen ist eng verwoben mit der massiven Verarbeitung und Verwendung von Daten und Netzwerken. Google, Apple, Facebook, Alibaba und Tencent konnten in ihren großen Heimatmärkten innerhalb kürzester Zeit genügend Netzwerkeffekte erzielen, um schnell zu skalieren. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, um so besser können Services, Produkte und Preise an die Bedürfnisse des Marktes angepasst werden. Es gibt nur noch wenige Branchen und Unternehmen, die keine Schnittstelle zu den Ökosystemen der großen Plattformunternehmen haben.
Plattformen als Gatekeeper
Ökosysteme decken die Bedürfnisse ihrer Nutzer über ein Netzwerk verschiedener und sich ergänzender Anbieter umfassend ab, und Plattformen organisieren dieses System. Sie halten die Eintrittsbarrieren für potenzielle neue Teilnehmer niedrig, schaffen aber gleichzeitig hohe Austrittsbarrieren, weil Abhängigkeiten über die Kernprodukte und Dienstleistungen hinaus entstehen.
Nun ist es nicht so, dass europäische Staaten sich dieser Tatsache nicht bewusst sind. Mit dem Digitalen Binnenmarkt, der EU-Datenstrategie oder dem europäischen Konzept zur künstlichen Intelligenz soll verhindert werden, dass sich im B2B-Bereich wiederholt, was in B2C-Branchen bereits Realität ist. Auch national tut sich einiges. Die bekannteste Initiative dürfte wohl Gaia-X sein, eine Alternative zu den Cloud-Lösungen von Amazon, Google und Microsoft. Auch die Industrie ist nicht untätig. Volkswagen entwickelt zum Beispiel gemeinsam mit Amazon die „Industrial Cloud”, eine Industrie-4.0- Plattform für digitale Produktion und Logistik, mit der der Autobauer künftig Daten aller Maschinen, Anlagen und Systeme aus sämtlichen Fabriken bündeln und vernetzen möchte. Mit Microsoft und anderen Partnern arbeitet das Unternehmen an der „Automotive Cloud”, einer Plattform für das vernetzte Fahrzeug. Sie vereint eine „Device-Plattform“, welche alle Fahrzeuge vernetzen und verbinden soll, sowie eine „Service- Plattform“, die sich an Endkunden richtet und über Schnittstellen den gesicherten Zugriff auf die Fahrzeugdaten ermöglicht. BMW fokussiert gemeinsam mit Microsoft mit der „Open Manufacturing Platform“ die digitale Transformation der Fertigung. Die IoT-Plattform vernetzt Roboter, Anlagen und autonome Transportsysteme und konnte in diesem Frühjahr mit Anheuser-Busch InBev, Bosch und ZF Friedrichshafen weitere Partner gewinnen. Und aus dem Mit- telstand kommt die „German Edge Cloud”, eine Cloud-Lösung für echtzeitfähige industrielle Anwendungsfälle, die Produktionsdaten erhebt, verarbeitet und in neue Services übersetzt.
Beispiele aus der Logistik
Neben diesen Industrieplattformen gibt es Supply-Chain-Management- und Logistikplattformen, die ihren Beitrag zu effizienten Liefer- und Logistikprozessen leisten. Hervorzuheben sind hier zum Beispiel Airsupply und Railsupply von Supplyon. Sie unterstützen Hersteller und Zulieferer entlang der gesamten Lieferkette. Oder die Plattform Discovery von VW, die 8.500 Lieferanten und Logistikdienstleister organisiert. Oder Transporeon, das ein großes Netz von Verladern und Logistikpartnern durch eine Reihe von Software-as-a-Service- Lösungen verbindet. Daten als Rohmaterial und Netzwerke sowie Schnittstellen als verbindende Elemente stehen dabei jeweils im Mittelpunkt.
Immer mehr Unternehmen öffnen sich gegenüber Datendrehschreiben, die Daten neutral vermitteln, um die Datensouveränität zu gewährleisten. Dies ist ein erster Schritt, aber leider auch nicht mehr. Denn die wenigsten ändern ihre Strategien. Das wäre aber nötig, denn datengetriebene Ökosysteme verändern die Regeln des Wettbewerbs. Es geht nicht mehr zwingend darum, sich Patente, kritische Assets oder eine starke Marke zu sichern. Es geht auch nicht mehr nur um Marktpositionierung oder Ressourcendominanz. Die meisten Plattformen produzieren nicht. Sie existieren, um andere miteinander zu verbinden. Sie schaffen einen Mehrwert, indem sie Beziehungen und Netzwerke pflegen. Je mehr Personen, Waren oder Daten über Plattformen in Transaktionen verwickelt sind, desto besser. Plattformen wollen die Mitglieder in ihren Öksoystemen dazu bringen, nach den von ihnen aufgestellten Regeln zu interagieren. Verdient wird dann über die Zugangskontrolle. Gerade im B2B-Segment stehen die Chancen für Plattformen von europäischen und deutschen Unternehmen dabei nicht schlecht. Bei Industriegütern, aber auch in der Abwicklung zwischen Partnern und in den Bereichen, wo langjähriges Vertrauen notwendig ist, können Digitalunternehmen nicht punkten. Ihnen fehlt noch die nötige Expertise.
Auch in der Logistik sind die Voraussetzungen für gemeinsame Plattformen blendend. Doch viel zu oft verfolgen die Akteure ihren eigenen Kurs, obwohl alle dieselben Probleme haben. Grund ist vor allem die Angst, sich selbst abzuschaffen.
Was wir von den Bäumen lernen können ist, dass wir gemeinsam mehr erreichen können. Wälder sind oft nur lokal erfolgreich. Die Bildung des Wood Wide Webs ist kontextabhängig und kann durch Faktoren wie Bodenfruchtbarkeit, Ressourcenverfügbarkeit, Störungen und saisonale Schwankungen beeinflusst werden. Obwohl Mammutbäume auch in Europa gedeihen, erreichen sie bei weitem nicht die Masse und Klasse der amerikanischen Exemplare. Wenn Unternehmen innerhalb von Branchen über ihren Schatten springen und beginnen würden, Daten zu tauschen, könnten sie immense Effizienzen erzielen.
Gemeinsam stark
Ein mögliches Modell hierfür sind Plattformgenossenschaften, die eine Datenplattform finanzieren, auf der sich dann digitale Ökosysteme entwickeln können. Die Aufgaben der Plattform wären, die Daten anzubinden, Analyse-Services bereizustellen und eine Geschäftsebene zu schaffen, auf der komplementäre Technologien, Produkte oder Dienstleistungen entwickelt werden können. Ein Wandel in diese Richtung ist zwingend notwendig. Denn in der Internetökonomie geraten die traditionellen Ansätze schnell an ihre Grenzen. Dies bedeutet auch: Wenn Unternehmen sich innerhalb ihrer Branchen nicht vernetzen und eigene Plattformen bauen, drohen sie zu Rohdatenlieferanten zu werden. Bearbeitung, Analyse und Veredelung werden dann von global agierenden US-amerikanischen und asiatischen Plattformen übernommen. Die Folge: Die Wertschöpfung wandert ab. Allzu viel Zeit bleibt nicht mehr.
Dieser Artikel ist zuerst im Rahmen einer Serie rund um Digitalisierungsdynamiken und deren Auswirkungen auf die Logistik in der DVZ erschienen und dann auf dem Blog von Axel Springer hy.