Pocket Guide to Digital Disruption #4: Encyclopædia Britannica, Microsoft Encarta und Wikipedia
Das Wissen der Welt wog früher 58,51 Kilogramm. 1993 war es nur noch eine CD-ROM leicht. Und heute passt die gesamte englischsprachige Wikipedia (Text only) auf eine 2 Gramm leichte 16GB Micro SD-Karte. Was sich nach mustergültiger digitaler Disruption anhört, ist eigentlich eine Geschichte von sich verändernden Kundenbedürfnissen in Folge einer höher gelagerten Transformation, die in kürzester Zeit neue und unbekannte Bedürfnisse schürte. Das Verlangen wurde von denen gestillt, die die alles verändernde Welle ritten. Nicht jedoch von denen, die versuchten ihr standzuhalten.
Die Geschäftswelt ist voller Mythen. Besonders die digitale Disruption zehrt und lebt von ihrem mythischen Wesen. Auch, weil sie nur Gewinner und Verlierer kennt. Doch oft ist die Realität feinkörniger und die Hintergründe offenbaren völlig neue Perspektiven. Denn selten sind disruptierte Unternehmen völlig blind. Viele waren vorbereitet. Sie hatten digitale Strategien, Taktiken oder Produkte parat, die sich mit den Herausforderern messen konnten. Ja, teilweise waren sie sogar den disruptiven Geschäftsmodellen der Herausforderer überlegen.
Dennoch zeigt die Geschichte, dass Unternehmen scheitern. So hatte Blockbuster in den frühen Netflix Jahren ein deutlich besseres Plattformpaket geschnürt, scheiterte aber letztlich an internen Missverständnissen und an fehlendem Marktverständnis bei den wichtigsten Investoren. Ein weiteres bekanntes Beispiel handelt von der Encyclopædia Britannica, dem Disruptor Microsoft Encarta und dem Sargnagel Wikipedia. Mittlerweile kennt fast jeder die Legende über den Niedergang der analogen Enzyklopädie, eingeleitet durch das digitale Produkt Encarta, welches das gleiche Wissen auf einer einzigen CD-ROM für einen Bruchteil des Enzyklopädien-Preises anbot. Doch den wenigsten ist bewusst, dass das Management von Britannica früh mit digitalen Produkten experimentierte und noch vor Microsoft erkannte, dass die CD-ROM nur ein Übergangsmedium zum Internet ist. Zwar begann man den Fehler die digitalen Initiativen nur als Ergänzung zum Kerngeschäft zu verstehen, doch soll das die eigentliche Weitsicht und Vorausschau nicht schmälern
Die Geschichte der Encyclopædia Britannica
Britannica blickt auf eine lange Historie zurück. Bereits im Jahr 1768 wurde in Edinburgh die allererste Version der Encyclopædia Britannica in Form einer wöchentlichen Veröffentlichung herausgegeben. 200 Jahre später hatte sich Britannica zum Marktführer der Enzyklopädien und Lexika gemausert. Ihr wichtigstes Asset im Kampf um Marktdominanz war eine zweitausendköpfige Sales-Armee, physische Kopien voller Expertenwissen für circa 1500 US-Dollar an der Haustür verkaufte (umgerechnet heute circa 2900 US-Dollar). Trotz der teuren Sales-Mannschaft fuhr Britannica ein sehr margenträchtiges Geschäft in einem attraktiven Markt. 1980 betrugen die Einzelhandelsumsätze des Enzyklopädien-Marktes in den USA circa 400 Millionen US-Dollar und Britannica strich davon einen beträchtlichen Teil ein.
In den ausklingenden 80ern und beginnenden 90ern begann sich der Markt jedoch zu wandeln. Der PC etablierte sich. Die Digitalisierung begann und die Dematerialisierung des Verlagswesen setzte ein.
Zwar erkannte man bei Britannica den Trend, doch priorisierte ihn nicht. Und das, obwohl die Digitalisierung bereits in den 1970er Jahren dazu führte, dass man von manuellen und mechanischen Werkzeugen zu Großrechnern wechselte, um den Prozess der jährlichen Aktualisierungen effizienter zu gestalten. Nur wenige antizipierten damals, dass das Medium selbst digitalisiert werden könnte.
Dies manifestierte sich vor allem in der verkündeten Überzeugung, dass der Kauf eines PCs das Familienbudget zu stark strapazierte und ein analoges Lexikon-Set über Jahre hinweg einen nachhaltigen Wert stiften wird. Man produzierte in diesem Sinne aufwändige TV-Werbungen, die sogar Kult-Status erreichten und die Verkäufe ankurbelten. Von diesem Geiste beflügelt, schlug man deswegen Mitte der 1980er Jahre breitbrüstig den Vorschlag von Microsoft aus, die Encyclopædia Britannica zu digitalisieren.
Die ersten Versuche im noch non-existenten Markt der digitalen Enzyklopädien unternahm indes ein holländisch-amerikanisches Unternehmen names Arête Publishing in den 1980er Jahren. Innerhalb von sechs Jahren entwickelten sie mit 20 Millionen US-Dollar Risikokapital die noch analoge „Academic American Encyclopedia“. Strategisch schloss man sich in der Folge mit CompuServe und Dow Jones News Service zusammen, um die Enzyklopädie auch auf Modem-fähigen Datenbanken laufen zu lassen. 1982 wurde dann Arête von Grolier, einem großen US-Publisher von Enzyklopädien, geschluckt. Fortan entwickelte man die Grolier KnowledgeDisc im Laserdisc Format — dem Vorläufer der DVD — die für 89,85 US-Dollar über den Ladentisch ging. Zum Vergleich: Die analoge 21-bändige Kopie von Grolier kostete 650 US-Dollar. 1984 startete man die ersten Gehversuche mit CD-ROMs, die damals allerdings nur Text und keine Multimedia-Inhalte enthielten.
Und Microsoft? Auch wenn das Softwareunternehmen von Britannica eine Abfuhr erhielt, war man weiterhin bestrebt im Markt mitzumischen. Man erwarb Ende der 1980er Jahre die Inhalte des sterbenden Wettbewerbers Funk & Wagnalls, um diese zu digitalisieren und auf CD-ROMs zu bringen. Das Ergebnis wurde wenige Jahre später im Jahr 1993 für 99 US-Dollar im Einzelverkauf im Markt unter dem Namen Encarta platziert.
Encarta schlug ein wie eine Bombe. Doch das Management von Britannica zögerte. Man hatte Angst vor zusätzlichen Kosten, verärgerten Sales-Mitarbeitern und der Kannibalisierung des Kerngeschäfts. Ein Jahr später wurde der Marktdruck jedoch zu groß und man knickte ein. Widerwillig pushte man die CD-Version der hauseigenen Markte Compton Encyclopedia, welche man bisher stiefmütterlich behandelt hatte. Die Marke wurde in den 1960ern Jahren übernommen und in den 1980ern dazu auserkoren, die ersten digitalen Gehversuche zu unternehmen. Sogar mit einigem technischen Erfolg: Bereits 1989 gab Compton die erste Multimedia Enzyklopädie auf CD-ROM heraus. Allerdings zum stolzen Preis von zehn späteren Encartas: 995 US-Dollar. Doch in der Zwischenzeit wuchs der Verkauf der analogen Printversion der Britannica stetig und man depriorisierte die CD-ROM Entwicklungen. 1990 erreichte das Gesamtgeschäft von Britannica seinen Höhepunkt. Die über 2.000 Haustürverkäufer brachten mehr als 100.000 Einheiten in den Vereinigten Staaten an den Mann oder die Frau.
Doch dann brach das Geschäft zusammen. Die Nachfrage nach analogen Enzyklopädien sank rapide. Im Rekordjahr 1990 erwirtschaftete Britannica 650 Millionen US-Dollar. 1996 war es plötzlich nur noch die Hälfte. Die Enzyklopädien-Verkäufe sanken analog von 117.000 im Jahr 1990 auf 51.000 im Jahr 1994. Zwei Jahre später waren es nur noch 3.000 und von der letzten 32-bändigen Ausgabe aus dem Jahr 2010 verkaufte man nur noch 8.000 Stück (= Nostalgie).
Der Grund für den Verfall war dabei nicht die Überlegenheit der neuen „digitalen und multimedialen Encarta“. Das digitale Produkt war zu Beginn nicht besser als die analoge Variante. Auch war der Umgang mit der Software deutlich komplizierter. Es passierte etwas viel elementareres: Die Bedürfnisse potentieller Neukunden veränderten sich radikal. Die wichtigste Kundengruppe von Britannica waren in den 80er und 90er Jahren verantwortungsbewusste Eltern von schulpflichtigen Kindern. Der Kauf einer Enzyklopädie war eine Investition in die Bildung des eigenen Nachwuchses. Doch mit dem einsetzenden Preisverfall und dem steigenden Erfolges von Computern mit CD-ROM Laufwerken erodierte der Glaubenssatz zu Beginn der 1990er Jahre. Die meisten Eltern begannen ihre Meinung zu ändern. Schlagartig verspürten sie keinen Druck mehr eine schöne und visuell mächtige Enzyklopädie im Bücherschrank stehen haben zu müssen. Das war ein Schlag ins Kontor von Britannica, immerhin war das eines der wichtigsten Wertversprechen des Unternehmens. Das Verlangen wurde dramatisch neu definiert. Denn für den Preis eines High-End-Enzyklopädie-Sets konnte man auch einen Computer bekommen, auf dem eine Enzyklopädie-App läuft und im Grunde alles andere auch.
Die Preise für Computer Hardware und Software fielen damals konsequent und das WINTEL Konglomerat gewann zunehmend an Macht. Immer mehr Haushalte besaßen einen Computer. Und damit auch eine Kopie von Encarta. Denn die digitale Enzyklopädie wurde kostenlos mit jeder Kopie von Windows ausgeliefert. Zwar verlor damit die Encarta-Sparte eine Menge Geld, doch zeitgleich steigerte es den PC-Absatz, der durch Encarta damit zum Lernwerkzeug wurde. Das Encarta Team erreichte in kürzester Zeit einen deutlich breiteren Kundenstamm als Britannica und konnte durch das Hard- und Software-Bundle zudem effizienter produzieren und aggressiver skalieren. Auch schuf der PC und die CD-ROM eine neue und steigende Nachfrage nach interaktiven Multimedia-Inhalten, mit der traditionelle Verlage wenig Erfahrung hatten.
Britannica wurde durch diesen brillanten Zug von Microsoft schachmatt gesetzt. Unabhängig von der Qualität, war es für Britannica schwer, mit einer „kostenlosen“ CD-ROM zu konkurrieren, die Teil eines größeren Produktversprechens war. Zudem war der von Britannica geliebte Direktvertrieb der falsche Kanal für den Verkauf von CD-ROM-Enzyklopädien. Zudem konnte man nicht einfach das traditionelle Geschäftsmodell ändern, bei dem die mehrbändigen Sets ein Breakeven-Angebot darstellten und die Gewinne aus nachfolgenden Jahrbuchabonnements (aka Updates) stammten. Britannica war zu sehr im eigenen Denkstil gefangen.
Als man endlich handelte, war man aber zu zögerlich. Zwar hatte man 1993 die Texte der eigenen Enzyklopädie auf CD-ROM herausgeben, den Vorstoß von Encarta kurze Zeit später mit einer Multimedia Britannica CD-ROM gekontert sowie weitere Investitionen in das Digitalgeschäft angekündigt. Jedoch verstand man die Taktik zunächst nur ergänzend zum Kerngeschäft. Auch konnte man nicht mit den Produktionskosten von Encarta mithalten. Was vor allem der Einführungspreis der Britannica CD-ROM im Jahr 1994 zeigt: Stolze 1200 Dollar. Für den gleichen Preis erhielt man ein komplettes analoges Print-Set!
Wie viele Content-Produzenten hatte man den Wert der CD-ROM auf Grundlage von Inhalten und Produktionskosten errechnet. Aber der Kundenstamm hatte sich verändertet. Good enough Content erhielt man für einen Bruchteil des Preises, wenn nicht sogar kostenlos. Es überrascht daher sicherlich keinen, aber Britannica senkte den CD-ROM Preis schnell in mehreren Schritten auf weniger als 100 US-Dollar. Doch dies führten natürlich dazu, dass die Margen verschwanden.
Außerdem wandte man sich einer neuen Technologie zu, in der Hoffnung eine Zukunft für das sterbende analoge Verlagswesen zu entwickeln. Man begann mit der Arbeit an Britannica Online und entwarf die erste internetbasierte Enzyklopädie. Denn überraschenderweise war das Management von Britannica im Gegensatz zu Microsoft vom Potenzial des Internets überzeugt und tat die CD-ROM als Übergangsmedium ab. Es war ein mutiger und riskanter Schritt. Nur wenige Verleger erkannten zu der Zeit, dass das Web ein potentieller Publikationskanal sein könnte. Und man kannibalisierte damit den Druckmarkt noch mehr als bisher, auch wenn sich damals niemand das Ausmaß hatte vorstellen können. Mit Blick auf die Macht des Microsoft-Intel-Encarta-Bundle war es jedoch auch Britannica’s einzige Hoffnung. Das erste Geschäftsmodell für den Internetservice sah eine jährlich zu entrichtende 150 US-Dollar Zugangsgebühr vor, mit der man Zutritt zu http://www.eb.com erhielt. Doch leider steckte das Internet damals noch in den Kinderschuhen und Britannica schaffte es nicht, nachhaltig mit dem Service Fuss zu fassen. Der digitale Markt war einfach noch nicht reif. Nur wenige konnten sich eine Verbindung zum Netz leisten.
Ein radikaler Wandel
Trotz aller digitaler Bemühungen konnte Britannica nicht genügend Traction aufbauen. Der Abwärtstrend war nicht mehr aufzuhalten und der klassische Verkauf stürzte von einer Klippe. 1995 sah man sich daher gezwungen, sich selbst zum Verkauf anzubieten. Ein Jahr später erwarb der Investor Jacob Safra die Firma für 135 Millionen Dollar und rettete sie vor dem Aus.
Der folgenden Restrukturierung fiel zuerst der Außendienst zum Opfer. Das Herz des Unternehmens. Doch der Kanal versiegte, so dass man sich entschloss andere Formen des Direktmarketings auszuprobieren.
1999 startete man http://www.britannica.com, eine kostenlose Website, inklusive einer Internet-Suchmaschine, Themenkanälen, Informationen zu aktuellen Ereignissen und Essays sowie dem vollständigen Text der Enzyklopädie. In den ersten Monaten war das Angebot sogar so beliebt, dass die Website mehrfach unter der Last zusammenbrach. Finanziert wurde der Service durch Werbung und Abo’s für werbefreie Erlebnisse. Die Domain http://www.eb.com wurde mit einem Angebot für Schulen und Bibliotheken ausgestattet. Immerhin wurde die Marke und die Qualität der Britannica Produkte weiterhin von Pädagogen anerkannt und geschätzt.
Interessanterweise reduzierte man in all der schlechten Zeit nicht einmal die redaktionellen Investitionen. Angesichts der stark rückläufigen Entwicklung hätte man dies sicherlich leicht rechtfertigen können. Aber die redaktionelle Qualität war und ist ein wesentlicher Bestandteil des Wertversprechens und auch eines der wenigen Differenzierungsmerkmale von Britannica.
Wie eine Epoche der Buch- und Wissensgeschichte zu Ende ging
Der Sargnagel aller Enzyklopädien erblickte 2001 das Licht der Welt: Wikipedia. Wissen war plötzlich kostenlos, zugänglich und jeder Interessierte konnte etwas beitragen. Wikipedia setzte auf Netzwerkeffekte, geringe Wechselkosten und auf eine neuen Trend: die Nachfrage nach schnellem Zugang zu Wissen. Auch wenn die Qualität von Wikipedia zu Beginn sehr gering war, war es den Konsumenten egal. Kostenlose Masse schlug Klasse. Wikipedia entwickelte sich deswegen schnell zu einer Antwort auf das neue Bedürfnis. Man kommodifizierte das Wissen der Welt und senkte den Zugangspreis auf Null. Ein Flywheel wie aus dem Lehrbuch. Weder Encarta, noch Britannica konnten mit diesem aggressiven Geschäftsmodell mithalten. Denn als das Volumen verfügbarer Informationen im Internet exponentiell stieg, wurde der Kauf von CDs mit Faktenmaterial nutzlos.
Bevor Wikipedia das Wiki-Prinzip adaptierte, hieß das Projekt übrigens Nupedia. Und ihre Ausrichtung glich allen anderen Online-Enzyklopädien. Man versuchte ein Redaktionsstab zu etablieren und verbrauchte Unmengen an Budget. Der Versuch die Wiki-Technologie im Jahr 2001 zu adaptieren wurde deswegen im Mart als Akt der Verzweiflung beschrieben. Der Erfolg war für alle eine Überraschung. Als die Anzahl der Artikel, Autoren und Besucher von Wikipedia in die Höhe schnellten und der Suchalgorithmus von Google die Seite weiterhin mit einer Top-Platzierung belohnte, wurden die alteingesessenen Unternehmen mit ihren Internetprodukten immer weiter abgehangen.
Mit dem Internet veränderte sich die Art und Weise, wie Menschen Informationen suchten. Der traditionelle Markt der Enzyklopädien und Nachschlagewerke wurde dadurch auf den Kopf gestellt. Zwar stellte Microsoft ihr Produkt ebenfalls online, doch mussten Encarta-Nutzer lange auf Updates warten. Auch weil die Encarta-Inhalte von einer teuren und langsamen Redaktionen erstellt wurden. Auch Britannica setzte und setzt weiterhin auf prominente Internet-Redakteure. So schrieb zum Beispiel Bill Clinton den Artikel zum Abkommen von Dayton, Tony Hawk verfasste den Artikel über Skateboarding, Jack Nicklaus den zu den US Open und aus Bruce Sterling’s Feder stammte der Enzyklopädien Eintrag zu Science Fiction. Microsoft und auch Britannica waren davon überzeugt, dass Konsumenten professionelle Inhalte bevorzugen.
Das Resultat ist bekannt: Microsoft beerdigte Encarta 16 Jahre nachdem sie die Enzyklopädiebranche nachhaltig verändert hatten. Britannica stellte 2012, nach 244 Jahren, die Druckausgabe der Encyclopædia Britannica ein. Ein konsequenter Zug. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Umsatzanteil der analogen Printprodukte bei einem Prozent am Gesamtgeschäft.
Heute betreibt Britannica vor allem mit Angeboten für Schulen, Universitäten und Bibliotheken ein lukratives Geschäft. Auch das Internet-Geschäft funktioniert einigermaßen. Die Margen im Bildungsbereich sind viel besser, und Britannica musste keine horrenden Rabatte anbieten, um Kunden zu gewinnen. So schlecht das Timing bei der CD-ROM gewesen war, so gut war die Entscheidung sich dem Bildungsmarkt zu widmen. Wikipedia lief so wie so allen den Rang ab. Warum also einen Wettkampf ausfechten, den man nicht gewinnen kann. Anstatt sich mit Wikipedia zu streiten, fokussierte man sich auf die redaktionelle Qualität und adressierte die Schwachstelle von Wikipedia im Bildungsmarkt. Dort bevorzugte man Quality-over-Quantitiy sowie Zuverlässigkeit. Heute haben mehr als die Hälfte der US-Schüler und -Lehrer Zugang zu einigen Britannica-Inhalten. Auch weil Updates schneller rausgehen. Was früher Wochen dauerte, passiert heute bei gleicher Qualität und Faktenrecherche in weniger als 30 Minuten.
Andere Lexika-Herausgeber konnten jedoch kein zweites Standbein aufbauen. Funk & Wagnalls musste an Microsoft verkaufen, aber auch Collier und Macmillian zogen ihren Hut. Genauso wie deutsche Verleger. Brockhaus gab 2006 mit der 21. Auflage die letzte Neuausgabe heraus und löste 2014 die Lexikonredaktion komplett auf, welche 1811 gegründet wurde. Eine Ära ging damit nicht nur in Deutschland zu Ende.
Eine Erfindung kann die Mutter der Notwendigkeit sein
Vor allem die Enzyklopädie-Verleger kämpften einen Kampf, den sie nicht gewinnen konnten. Ihr Konkurrent war eine gesamte Technologieklasse, welche den Kundenstamm und dessen Ansprüche durch ihre Entwicklung auf einer höher gelagerten Ebene veränderte. Als Britannica den Markt dominierte, waren Eltern bestrebt, ihren Kindern die beste Ausbildung zu ermöglichen, auch wenn dies viel Geld kostete. Abgelöst wurde man jedoch nicht von Encarta, sondern vom PC der zufälligerweise eben auch Encarta enthielt. Das Paket mit seinen Multimedia-Funktionen war für Eltern in den 1990ern einfach — und verständlicherweise — attraktiver. Die zentrale Kundengruppe hatte auf eine grundlegende Dynamik reagiert und sich angepasst. Genauso wie später begeisterte Encarta Kunden auf die Früchte des Internets reagiert hatten und plötzlich Wikipedia bevorzugten.
Natürlich bleibt die Geschichte anekdotisch. Und natürlich hätte man bei Britannica und Microsoft den Trend zum jeweils besseren Produkt erkennen müssen. Doch kann man dem Management eine Schuld geben? Ihnen gar Versagen vorwerfen, weil sie blind für die grundlegende Veränderung waren? Hält man sich vor Augen, dass Britannica und Encarta jeweils digitale Produkte entwickelten, die unter Umständen sogar konkurrenzfähig gewesen wären, lautet die Antwort Jein. Man hatte zeitnah reagiert und tatsächlich vergleichbare gute Produkte im Portfolio. Jedoch ließen beide eine gewisse Konsequenz und Ernsthaftigkeit vermissen. Die jeweiligen Produktentwicklungen hatten „nur“ das Ziel das Kerngeschäft zu stärken, zu unterstützen und zu erhalten. Den Herausforderern spielte es jedoch in die Karten, dass sie mit ihrem Produkt eine neue Welle ritten, die sich mit der Zeit als weltbewegend herausstellte.
Britannica und später auch Encarta waren schlichtweg zu sehr im eigenen Denkstil gefangen und konnte sich nicht vorstellen, dass sich Konsumentenvorlieben und -überzeugungen innerhalb kürzester Zeit durch neue Technologien oder Produkte radikal verändern können. Als sich der PC und später das Internet durchsetzte, wurden neue Bedürfnisse generiert, auf die junge Unternehmen einfach die besseren Antworten hatten.
The Internet is a passing fad that will go the way of the BBS. (Bill Gates, 1995)
Es ist wichtig, sich jederzeit Gedanken über zukünftige Entwicklungspfade von marktnahen aber auch von marktfernen Entwicklungen zu machen. Egal ob man jung oder alt ist. Egal ob man einen Markt dominiert oder ob man den Anspruch hat einen Markt zu verändern. Denn immer häufiger produziert unsere vernetzte und globale Welt an Kreuzungen von möglichen zukünftigen Pfaden unentwegtes Chaos. Dieses Chaos kann urplötzlich neue Bedürfnisse generieren, auf die man nicht vorbereitet ist. Man muss seine Umwelt und sein Umfeld ständig im Blick haben sowie sich und seinen Denkstil konsequent hinterfragen. Jederzeit kann eine neue Welle auf einen zu rollen, die alles verändert. Nur wer sich auf die Veränderungen einstellt, erhält eine Chance auf Veränderungen präaktiv zu reagieren. Denn unverzüglich können sich Begehren und Wünsche durch Einflüsse aus der Peripherie verändern. Wenn man auf Veränderungen nicht reagiert, kann man nur noch sein Schicksal akzeptieren. Und wer in dynamischen Märkten reaktiv agiert, der verliert.
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