Things move faster in the long term than in the short term
Pocket Guide to Digital Transformation - Reflexionen zu strukturellen Veränderungen, digitalen Konzepten und internetökonomischen Zukunftsperspektiven.
Digitale Entwicklungen bewegen sich über kurze Laufzeiten langsamer, als wenn man eine längerfristige Perspektive einnimmt. Es empfiehlt sich zweimal soweit zurück zu blicken, wie man vorausschaut (als Beispiel: Android Smartphones und Chrome sind erst 10 Jahre alt). Auch, weil plattform-basierte Geschäftsmodelle in der Anlaufphase häufig träge wachsen. Setzt ein positiver Netzwerkeffekt ein, bewegt sich das Modell exponentiell. Morgen und Übermorgen sind dann Welten voneinander entfernt.
Digital kennt keine Geduld. Die wenigsten agieren aus einer Position der Stärke heraus und besitzen genügend Durchhaltevermögen, Wissen über Veränderungen oder haben Zugang zu nötigem Talent, um beharrlich und gut vorbereitet ein beständiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Hinzu kommt die fehlende Nachsicht von Technologieoptimisten, Trendforschern und Beratern, wenn das Heilsversprechen einer Technologie länger als ein Jahr auf sich warten lässt oder doch nicht so disruptiv wirkt wie gedacht. Es ist schon fast tragisch, wie häufig “vielversprechende” und “geliebte” Trends und Technologien in der Versenkung verschwinden, weil die transformative Kraft aufgrund vorher unbekannter (oder bewusst ausgeblendeter) Variablen sich nicht entfalten konnte und damit die mediale Aufmerksamkeit abnimmt. Anderen - vor allem Zynikern - mangelt es häufig an Vorstellungskraft, wenn es um mehrere Facetten von Zukünften geht und Realisten verweisen gerne auf den Status Quo, der per Gesetz die Zukunft nicht vorwegnimmt, weil die Zukunft ungewiss ist.
Deswegen ist es schwer, eine sachliche geteilte Diskussion über die Auswirkung und Pfadabhängigkeiten von Digitaltechnologien und -innovationen zu führen. Besonders dann, wenn man unternehmerisch zu entscheiden hat, welche priorisiert betrachtet werden sollen. In Zeiten zunehmender Volatilität und Komplexität ist das Unterfangen sogar noch schwieriger, da Akteure, Ereignisse und Entwicklungen einer zunehmenden Mehrdeutigkeit unterworfen sind, die heutzutage kaum noch zu entschlüsseln ist. Dies gipfelt im Bedenken, dass man mit seiner Innovation zu spät sei oder nicht die Umsetzungskompetenz besitzt. Ergo lässt man es lieber gleich und setzt weiterhin auf erhaltende Innovation.
Diese Ansichten lassen sich manchmal auflösen, wenn man darauf hinweist, dass Veränderung und Wandel Zeit benötigen. Wirft man den Blick zweimal so weit zurück, wie man vorausschauen will, stellt man fest, dass bereits relativ viel passiert ist. Zum Zeitpunkt der letzten Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 existierten Uber, Instagram, Bitcoin, WhatsApp, WeChat oder Spotify noch nicht. Amazon beschäftigte “nur” 20.000 Mitarbeiter. Apple hatte 2008 erst knapp mehr als 12 Millionen iPhones verkauft (der App Store wurde 2008 gelauncht, das erste iPad ging 2010 über die Ladentheke) und hat “nur” $37,5 Milliarden Umsatz gemacht. Der mit Amazon kombinierte Unternehmenswert betrug $170 Milliarden, im September 2018 waren es $2 Billionen. Der gemeinsame Umsatz von Google, Facebook und Twitter betrug $22 Milliarden. 10 Jahre später ist es das siebenfache. 2008 hatte Netflix 8,6 Millionen Abonnenten, heute sind es über 135 Millionen. Facebook - heute mit 2,2 Milliarden Nutzern - hatte vor zehn Jahren gerade mal 100 Millionen Menschen überzeugen können und überholte damit das damals dominierende soziale Netzwerk MySpace.
Die Halbwertszeit von Zukunft lässt sich daher erst rückblickend bestimmen. Man sollte ihr mit Geduld begegnen. Vor allem dann, wenn man es mit grundlegenden Technologien und Infrastrukturen wie dem Internet, dem mobilen Internet oder möglicherweise zukünftig relevanten Technologieplattformen wie Künstliche Intelligenz, Blockchain (= HTML Mitte der 1990er Jahre), Mixed Reality (= MultiTouch Mitte der 2010er Jahre), 3D Druck oder Autonomen Systemen zu tun hat. Das Wirkungspotenzial dieser Technologieplattformen ist hoch, die Anzahl der Akquisitionen von Jungunternehmen durch Digitalunternehmen zieht an und die amerikanischen und chinesischen Risikokapitalinvestitionen in die jeweiligen Spaces erreichen jedes Jahr neue Höchststände (2017 wurden global 170 Milliarden US Dollar an Risikokapital ausgeschüttet; in der Dot-Com Phase waren es 87 Milliarden US Dollar). Allerdings befinden sich die wirklich relevanten Anwendungen und Infrastrukturen gerade erst in der Entwicklung oder wurden noch nicht erfunden. Beziehungsweise sehen sie in ihrer Frühphase möglicherweise aus wie ein Spielzeug, dem wir keine relevante Bedeutung zuweisen (“Google erkennt Katzen und rote Autos auf Bildern”), welches aber in der nahen Zukunft Workflows und Routinen verändert (“Algorithmen erkennen Hautkrankheiten besser als Ärzte”) und mittelfristig ganze Branchen hervorbringen kann (“Machine Learning als Grundlage für autonomes Fahren”), weil die Infrastrukturen sich verbessert haben. Nur verbissene Nostalgiker wünschen sich deswegen den Anwendungsumfang oder die Verbindungsgeschwindigkeiten der ersten mobilen Endgeräte zurück.
Eine valide Aussage darüber, wohin die digitale Reise geht, ist trotz aller Indikatoren nahezu unmöglich. Bei digitalen Geschäftsmodellen liegt das häufig in der Natur des Netzwerkeffektes: Die meisten kennen das Metcalfesche Telefonmodell, bei dem mit zunehmender Anzahl von Telefonen in einem Netzwerk der Mehrwert für jeden Nutzer steigt, die Seerosenmathematikaufgabe aus der Mittelstufe oder die Weizenkornlegende, die neben exponentiellen Effekten auch die Unerschöpflichkeit der Möglichkeiten und Partieverläufe im Schach versinnbildlicht.
In der Weizenkornlegende gewährte ein König einem Weisen einen freien Wunsch. Dieser wünschte sich Weizenkörner. Auf das erste Feld eines Schachbretts wollte er ein Korn, auf das zweite Feld das Doppelte, auf das dritte wiederum die doppelte Menge und so weiter. Der König akzeptierte, sah sich dann aber mit der Herausforderung konfrontiert, dass er für alle Felder des Schachbretts 18,45 Trillionen Weizenkörner oder 730 Mrd. Tonnen Weizen oder das 1200-fachen der weltweiten Weizenernte des Jahres 2004 aufbringen musste. Bei digitalen mehrseitigen Netzwerken ist das Wachstum zwar etwas komplizierter - mehrseitige positive wie negative Effekte fördern und hemmen das Wachstum in begrenzten Märkten - aber die Wachstumsprämisse bleibt die gleiche. Das Problem ist, dass wir kein Bauchgefühl für exponentielle Entwicklungen besitzen. Wir wurden in eine lineare Welt geboren und handeln maximal nach linearer Best- und Worstcase Maxime. Exponentielle Kurven (und damit explosionsartiger Erfolg) sind uns fremd, weswegen Digitalunternehmen mit ihren immateriellen Vermögenswerten und wachsenden Communities schwer gegriffen werden können. Auch, weil Plattformwettbewerber sich häufig über Jahre unterhalb des eigenen linearen Wachstums entwickeln und deswegen nicht als Konkurrent wahrgenommen werden. So hat Spotify knapp 4 Jahre für 500.000 zahlende Nutzer benötigt (2010). Weitere 4 Jahre für 12 Millionen (2014) und erneut 4 Jahre, um 83 Millionen Nutzer zu erreichen (Juni 2018). Airbnb brauchte fast 36 Monate, um genügend Liquidität - Aktivität auf beiden Marktplatzseiten - auf ihrer Plattform aufzubauen, um überhaupt Anzeichen von Netzwerkeffekten zu erkennen. Die Wachstumsexplosion setzte aber ein und die Unternehmen wuchsen sprunghaft.
Digitalunternehmen hoffen auf eben solche Explosionsphänomene, die nachhaltigen Erfolg im Übermorgen versprechen, auch wenn sie dafür im Morgen Geld verbrennen. Mit Genügend Beharrlichkeit, Wissen über Veränderungen und Zugang zu nötigem Talent (und einfachem Risikokapital) sind sie in einer besseren Ausgangslage, als diejenigen, die auf veraltete Infrastrukturen und Anwendungen setzen.
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