July 23, 2020
Disruptive Technologien werden in jungen Jahren oft als Spielzeug abgetan
Disruptive Technologien werden in jungen Jahren oft als Spielzeug abgetan
In der letzten Woche überraschte OpenAI mit Zugängen zu #GPT3. Seitdem ist die Tech-Welt fasziniert. Der Rest fragt sich, was hinter dem neuen KI-Spielzeug steckt.
Hinter dieser Dynamik steckt ein bekanntes Silicon Valley Muster: Viele Innovationen sehen in ihrer Frühphase aus wie Spielzeuge, denen wir zunächst keine relevante Bedeutung zuweisen (zB. “Google erkennt Katzen und rote Autos auf Bildern”). Manchmal jedoch verändern sie Workflows & Routinen (“Algorithmen erkennen Hautkrankheiten besser als Ärzte”) und bilden eine Basis für ganze Branchen (“Machine Learning als Grundlage für autonomes Fahren”).
In der Technikgeschichte kennt man das Muster schon länger: Als zu Beginn des 19. Jhdts. bspw. das Mikroskop entwickelt wurde, vermarktete man es als Spielzeug für wohlhabende Herren. In teuren, mit Samt ausgeschlagenen Schatullen wurden die Apparate verkauft. Mitgeliefert wurden präparierte Objektträger mit Tierknochen, Fischschuppen oder Blüten. Kaum jemand kaufte sich ein Mikroskop, um ernsthafte wissenschaftliche Forschungen zu betreiben.
Oft müssen sich erst Anwendungsfälle und Communities bilden, die den Argwohn überwinden und praktischen Nutzen demonstrieren. Genauso wird es uns mit dem neuen KI-Werkzeug #GPT3 gehen. Man darf gespannt sein.
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Innovation
July 20, 2020
WhatsApp
WhatsApp Website
Jedes erfolgreiche digitale Unternehmen begann mit einer Idee, die unterwegs begraben wurde. Auch WhatsApp.
2009 trafen sich Brian Acton und Jan Koum in der Bay Area bei einer Ultimate Frisbee Session. Koum erzählte Acton von seiner App, in der man sehen konnte, ob die eigenen Kontakte bereit für ein Telefonat seien oder nicht. Danach sollte man die App verlassen und den Kontakt anrufen. Die Idee war nicht sehr fancy, doch das Glück spielte Koum in die Karten. Apple stellte kurz danach Push Notifications vor und plötzlich begannen die Beta-User auf Status-Veränderungen ihrer Kontakte via Push Notifications zu reagieren. Niemand nutzte WhatsApp wie geplant! Die Nutzer versuchten aus WhatsApp einen Messenger zu machen. Anstatt jedesmal die App zu verlassen, um mit jemanden zu interagieren, realisierte Koum, dass man dies doch direkt in der App tun könne. Eine Epiphanie. Immerhin konnte man damals nur per SMS über die Mobile Carrier mit anderen kommunizieren, die zudem noch teuer waren. Koum’s Geistesblitz: Text via App umgeht die Kosten. Der Rest ist Geschichte.
Die Moral von der Geschichte: Manchmal muss man einfach nur seinen Nutzern bei ihren Experimenten zusehen und sich von den eigenen Überzeugungen lösen können.
Digital Disruption
July 16, 2020
25 Jahre Amazon
Heute vor 25 Jahren ging Amazon online. Ich erspare euch aber die mythische Gründer-Geschichte vom smarten Informatiker Bezos, der einen gut dotierten Job aufgab, um in einer Garage eine Firma zu starten. Wir alle wissen, was seitdem passiert ist. Nur wenige Unternehmen der Geschichte können sich mit Amazon messen. Handel und Logistik wurden auf den Kopf gestellt, einmal kräftig geschüttelt und von Amazon neu geordnet.
Eine Erfolgsgeschichte. Doch diese hat auch Schatten: Kurz nach dem Start, stand Bezos nämlich fast vor dem Ruin. Hätten seine Eltern, Jackie und Mike Bezos, keine $245,573 US-Dollar 1995 in die ungetestete Idee Online-Shopping investiert, wäre das persönliche Vermögen von Bezos sicherlich nicht um 84 Mrd. US-Dollar zwischen März und Juli 2020 gewachsen.
Bezos konnte Amazon nur bauen, weil er in relativen Reichtum hineingeboren wurde. Als Kind der oberen Mittelschicht durfte er sich Fehler und großes Risiko erlauben. Doch vielen Menschen wird dies in einer Welt, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, verwehrt. Nur wenige können auf Sicherheitsnetze zählen und ein Startup in einer Garage groß ziehen. Und genau daran sollte man an solch einem Geburtstag auch erinnern.
thoughts
July 16, 2020
Instagram
Die ersten Instagram-Posts
Heute vor 10 Jahren teilten Mike Krieger und Kevin Systrom die allerersten Bilder auf Instagram. Krieger lud ein Foto von South Beach Harbor am Pier 38 hoch. Systrom teilte ein Foto von einem Hund und dem Fuß seiner Freundin an einem Taco-Stand in Todos Santos, Mexiko.
Das Bild von Systrom gilt gemeinhin als der erste Instagram Post, da in seiner URL ein C und bei Krieger ein G verwendet wurde. Aber Kriegers Gram ist laut Zeitstempeln ein paar Stunden jünger. Die chronologische Reihenfolge der Beiträge stimmt nicht mit der alphabetischen überein. Sei’s drum. Beide Fotos wurden in eine App namens Burbn hochgeladen. Drei Monate später, im Oktober 2010, wurde aus Burbn dann Instagram (instant telegram) und die App wurde der Öffentlichkeit vorgestellt.
Heute hat Instagram mehr als 1 Milliarden aktive Nutzer pro Monat, täglich werden mehr als 400 Millionen Stories geteilt, durchschnittlich landen 100+ Millionen Fotos auf der Plattform und insgesamt wurden mehr als 50 Milliarden Fotos geteilt. Nicht schlecht für ein Unternehmen, welches nur mit ein paar Filtern für digitale Fotos startete.
Digital Disruption
July 14, 2020
25 Jahre MP3
Happy Birthday MP3 🥳 Heute vor 25 Jahren fand im Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen eine Abstimmung statt, wie die im Institut entwickelte Musikdatei heißen sollten. Jürgen Zeller teilte das Ergebnis in einer Mail an seine Kollegen:
„Hallo, nach der überwältigenden Meinung aller Befragter: die Endung für ISO MPEG Audio Layer 3 ist .mp3. D.h. wir sollten für kommende WWW-Seiten, Shareware, Demos, etc. darauf achten, dass keine .bit Endungen mehr rausgehen. Es hat einen Grund, glaubt mir :-)“
Was folgte ist uns allen bekannt: Der Computer als Musikzentrale, FTP Server mit Tonnen an Musik, WinAmp, Napster, Audiogalaxy, Kazaa & Co, Ignoranz, Kampf und Untergang der Musikindustrie, Steve Jobs und der iPod, eine Flut von MP3 Playern, MySpace und irgendwann dann Streaming und Spotify. Eine bahnbrechende Neuerung. MP3 hat die Regeln für den Wettbewerb neu geschrieben.
Auch wenn die Technologie nicht mehr State of the Art, der wohl wichtigste deutsche Beitrag zum Internet hält sich wacker. Eine wahre #Sprunginnovation.
Wer mehr über die Gründungsgeschichte der Erlanger Kompressionstechnik lesen möchte, dem sei die vom Fraunhofer IIS eingerichtete Seite zur MP3 Geschichte empfohlen.
Digital Disruption
July 9, 2020
Musik aus dem Hahn - Wie vor mehr als 100 Jahren das Musik-Streaming erfunden wurde
Die Geschichte ist voll von obskuren Erfindungen und rastlosen Erfindern. Manche setzen sich durch, andere ertrinken im Fluss der Zeit. Eine dieser vergessenen Erfindungen ist ein utopisches Biest namens Telharmonium, der erste elektrische Synthesizer und Urvater des Musik-Streaming. Ausgedacht und entwickelt vom umtriebigen Physiker Thaddeus Cahill um die Jahrhundertwende. Seine Idee: Wenn Luft in Pfeifen Töne erzeugen kann, müsste auch elektrischer Strom Membranen schwingen lassen können.
Cahill übersetzte seine Überlegungen in eine Skizze und meldete 1896 ein Patent an. Vier Jahre später hatte er einen ersten Prototypen entwickelt. Dieser erste Entwurf sollte die Prinzipien des “Telharmoniums” oder “Dynamophons” festlegen. Cahill wollte ein universelles “perfektes Instrument” erschaffen. Einen mechanisches Apparat, der absolut perfekte Töne erzeugt, basierend auf den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es sollte die Ausdauer der Pfeifenorgel mit dem Ausdruck eines Klaviers, die musikalische Intensität einer Geige mit der Polyphonie eines Streichersatzes und die Klangfarbe und Kraft von Blasinstrumenten mit der Akkordfähigkeit einer Orgel verbinden. Kurz: Es sollte traditionelle Instrumente und damit auch Musiker überflüssig machen.
Ausgestattet mit unternehmerischen Pragmatismus fragte Cahill sich nämlich auch, was sich im Markt gut verkaufen ließe. Dabei stieß er auf einen etablierten Zweig: Live-Musik. Um die Jahrhundertwende lag allein in New York die Summe aller Musikergagen in Restaurants, Kirchen, Unterhaltungsetablissements und anderen Orten bei rund einer Million Dollar pro Jahr. Ein skalierendes Konkurrenzangebot müsste daher eine Goldgrube sein, überlegte Cahill.
Cahill’s Prototyp, McClure’s magazine, Ausgabe 27, 1906
Cahill’s Vision, Überzeugungskraft und Arbeitseifer fruchtete. Er fand Investoren, eröffnete eine Werkstatt und finalisierte seinen Prototypen. Mit genügend Kapital ausgestattet schuf Cahill ein futuristisches Monstrum. Sein Mark II wog knappe 200 Tonnen, besaß albtraumhafte 672 Tasten plus 336 Regler, hatte die Ausmaße einer Kathedralenorgel und wurde mit 30 Güterwaggons nach New York City gefahren. Dort belegte es zwanzig Jahre lang ein gesamtes Stockwerk der “Telharmonic Hall” in der 39th Street am Broadway. Insgesamt kotete die Entwicklung ungefähr 200.000 US-Dollar. Umgerechnet circa 5,8 Millionen US-Dollar!
Telharmony - Musik-Streaming-Abos im zwanzigsten Jahrhundert
Als er seine Maschine der Welt vorstellte, verharrte diese im Staunen. Die Presse sprach von absoluter Klangtreue, vollen Tönen, glockenklaren Blechbläsern und außerordentlichen Orgeltöne. Es muss eine überirdische Erfahrung gewesen sein. Mark Twain wollte sogar seinen Tod verschieben, um noch einmal in den Genuss der Klänge des Synthesizers zu kommen. Unter keinen Umständen könne er diese Welt verlassen, bevor er das nicht wieder und wieder gehört habe, ließ er verlauten. Und auch der Physiker William Thomson Kelvin hielt das Telharmonium für „eine der größten Leistungen des menschlichen Gehirns“. Unweigerlich muss man an die Begeisterungsstürme von Steve Jobs, Jeff Bezos oder John Doerr denken, die um die Jahrtausendwende lobpreisende Lieder über den Segway sangen.
Doch die eigentliche Sensation war nicht der Klang. Die originelle Art und Weise, wie die Musik entstand, lies aufhorchen. Da die Töne elektrisch erzeugt wurden, konnte man die Signale theoretisch über Telefonleitungen kilometerweit verschicken. Cahill schlug deswegen vor, die elektronische Musikausgabe über das neu eingerichtete Telefonnetz an Abonnenten zu Hause oder in Hotels und öffentlichen Räumen zu verteilen; daher der Name “Telharmonium - Telegraphic Harmony”. Cahill arbeitete an nicht weniger als an der Fernübertragung von Musik. Und das ein Jahrzehnt vor der Erfindung des Radios und der Erfindung von modernen Lautsprechern. Er etablierte einen viktorianischen Streaming-Dienst.
Titelbild Scientific American, Volume 96, Nummer 10, 1907, via archive.org)
Die Idee, Musik über das Telegrafen- oder Telefonnetz zu übertragen, war jedoch nicht neu. Cahill war über frühere Erfindungen und Experimente mit telegraphischer Musik gut informiert. Bereits 1809 schuf der preußische Anthropologe Samuel Thomas Soemmerring einen elektrischen Telegraphen, der aus mehreren Kilometern Entfernung eine Reihe gestimmter Glocken auslöste. 1893 gründete der ungarische Ingenieur Tivadar Puskás den “Telefonhírmondó”, eine Art telefonbasierte Zeitung, die Musik und Nachrichten über das Budapester Telefonnetz an bis zu 91.000 Abonnenten sendete. In Paris schuf Clément Ader 1881 das “Théâtrophone”, eine Art frühe binaurale oder Stereo-Audioübertragung von Musik und Theater, die bis zu ihrer Ablösung durch den Rundfunk 1931 lief. Und in London 1895 verteilte der “Electrophone”-Dienst in ähnlicher Weise Musiksaal- und Unterhaltungsmusik an ein Abonnentenpublikum. Außerdem hatte Elisha Gray, einer der Erfinder des Telefons, 1874 eine Methode entwickelt, um mit
Hilfe elektromagnetisch gesteuerter, vibrierender Metallzungen Tonhöhen über ein Telegrafennetz mit großer Reichweite zu übertragen. Er nannte seine Erfindung den “Musikalischen Telegraphen“ und inspirierte Cahill zu seinen Bemühungen.
Zwei Telharmonisten, McClure’s magazine, Ausgabe 27, 1906
Sich den Entwicklungen bewusst, erkannte Cahill in der Kombination des Mediums Telefon mit Unterhaltungsmusik großes Potential. Denn bis dato — und auch teilweise noch heute — scheiterten die oben genannten Experimente am Klangbrei, der entsteht, wenn man mehr als einen Ton über eine Leitung schickt. Cahill’s Erkenntnis: Wenn die Töne elektrisch wären, könnte es funktionieren.
Also schloss er neben seinem Hauptgeschäft — mehrfache tägliche Vorstellungen am Broadway — einen Deal mit der New Yorker Telefongesellschaft. 1905 ließ er die ersten Kabel durch die Stadt verlegen. Für 25 US-Cent die Stunde (individuelle Abrechnung) oder 50 Dollar im Monat konnte man fortan der „Musik aus dem Hahn“ lauschen. Cahill taufte die Musik „Telharmony“. Abonnenten konnten ihr Telefon in die Hand nehmen, den Betreiber bitten, sie mit dem Telharmonium zu verbinden, und sofort wurden die Drähte ihrer Telefonleitung mit den Drähten des Telharmoniums verbunden. Auf vier Kanälen liefen live-gespielt Klassik, geistliche Musik, Oper und Populärmusik. Auch ein Kanal für Entspannungsmusik war geplant. Die damaligen Top-Streaming-Interpreten waren Bach, Chopin, Grieg oder Rossinni. Als die Presse von dem neuen Dienst erfuhr, ging sie sogar soweit und sprach von der Demokratisierung der Musik!
Das neuartige Musik-Vertriebsmodell richtete sich zunächst an Edelrestaurants. Im Louis Sherry’s, im Casino-Theatre, im Waldorf-Astoria, im Plaza und im Café Martin wurden die Gäste von Telharmoniumklänge umgeben. Aber auch Kirchen buchten den Dienst. Die Gründe waren profan: Restaurants und Kirchen wollten Geld für Musiker sparen. Nach den ersten Begeisterungswellen holten sich auch reiche New Yorker den Dienst in ihre Wohnungen. Neben Walter Damrosch oder Giacomo Puccini auch eben erwähnter Mark Twain. Er behauptete, dass das Telharmonium “für die menschliche Spezies ein größerer Wohltäter werden (wird) als das Telefon oder der Telegraf”. Twain wünschte sich sogar eine Begleitung seiner Beerdigung durch das Telharmonium. Verbundene Straßenlaternen könnten doch den Trauermarsch spielen.
Der Anfang vom Ende
Von dieser Begeisterung angestachelt, begann Cahill ein Netz von “Telharmonic Halls” aufbauen. Sein Interesse galt fortan der Musikvermarktung über das Telefonnetz. Er war ein Pionier der wirtschaftlichen Nutzung von Kabelnetzen und damit ein Urvater des Internets.
1906 hatte seine Firma 900 Aktionäre bereits verzeichnen können. Viele New Yorker strömten in die Telharmonic Hall am Broadway, um die Musik der Zukunft selbst zu erleben. Die elektronische Musik aus Zahnrädern war der Hit der Jahres.
Das Telharmonium, Wikipedia
Doch zu seinem Pech fehlten damals viele unterstützende IT-Grundlagentechnologien, auf die wir heute zurückgreifen können. Auch war das System kompliziert in der Handhabung. Es brauchte mindestens zwei Telharmonisten, um die ausufernde Klaviatur zu bedienen. Zudem verstimmte das Instrument ständig und es wurde sehr leise, je mehr Töne man anschlug. Ein anderes Problem lag in der Kommunikationsinfrastruktur. Die übertragenden Kabel „leckten“. Der Grund: Das Telharmonium war so wuchtig, weil es noch keine elektronischen Verstärker gab. Die Tongeneratoren waren in Wirklichkeit riesige elektrische Wechselstromgeneratoren, die die Leistung für sämtliche per Telefonnetz angeschlossenen Lautsprecher selbst erzeugen mussten, um alle Zuhörer mit genügend Schalldruck zu versorgen. Es mussten gigantisch-verstärkte Signale erzeugt werden. Das Problem: Diese schlugen auf nahegelegenen Telefonleitungen über.
Problematisch wurde es, als es Dienstleistungen der Börse beeinträchtigte. Zudem kam es zu Interferenzen mit Telegrafenleitungen. Und bei Experimenten mit Funkübertragungen empfingen die Empfänger nicht nur Musik, sondern auch Morsezeichen einer Marinebasis. Umgekehrt störte das Telharmonium-Signal den Marinefunk, was dem Militär durchaus mißfiel. Cahill war deswegen überzeugt, dass sich die sonderbare Radiotechnologie nie durchsetzen würde. Zudem wollten seine Investoren langsam aber sicher Geld sehen. Doch Cahill reinvestierte jeden Gewinn in die Weiterentwicklung seiner Vision und blendete jegliche Kritik aus.
Thaddeus Cahill (* 18. Juni 1867 in Iowa; † 12. April 1934 in Manhattan, New York)
Es kam, wie es kommen musste. Irgendwann brach Cahill’s Traum in sich zusammen. Die Investoren drohten mit Klagen. Auch Technologieprobleme machten ihm zu schaffen. Problematisch war vor allem der Mangel an elektronischer Verstärkung. Alles musste unter Vollast laufen. Das System war extrem ineffizient und verlor viel Strom. Außerdem erhielten die Telefongesellschaften vermehrt Beschwerden zu übergriffigen Telharmoniumkabel und kündigten den Vertag. Parallel nahm die Qualität der Live-Konzerte rasch ab, denn die eingestellten Musiker waren überarbeitet. Immerhin rackerten sie 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche, um die Nachfrage nach Konzerten und Streams zu bedienen. Und ohne Investoren konnte sich Cahill keine weiteren Mitarbeiter leisten. Hinzukam, dass das ausgegeben Signal am Ende der Telefonleitung natürlich schrecklich klang. Da halfen selbst von Cahill gebastelte Telefonhörner nichts, die man zur Verstärkung des Signals an das Telefon anbringen sollte (Smartphone
Accessoires anyone?).
Obwohl Cahill’s Firma New York Electric Music Company viele Hürden überwand, hatte das Unternehmen nicht genügend Abonnenten, um wirtschaftlich zu arbeiten. Elektrische Musik klang in der Theorie wunderbar, aber in der Praxis war sie zu zickig und teuer. Für jede 10.000 neue Abonnenten hätte man ein neues Kraftwerk bauen müssen, um sie mit Musik zu versorgen. Nachhaltig und skalierend ist etwas anderes. Das Geschäft brach ein und man schloss die Firma 1914 endgültig. Zwar versuchte Cahill vorher noch die Preise zu senken und ließ Gullydeckel sowie Straßenbahnwaggons musizieren. Doch auch die vielen PR-Stunts halfen nicht.
Das Backend des Telharmoniums)
Cahill floh aus New York und hinterließ ein Millionengrab. Wortwörtlich, denn die Entwicklung hatte mehr als eine Millionen US-Dollar gekostet. Noch einmal: Wir sprechen über die Zehnerjahre im zwanzigsten Jahrhundert. Mit seinem letzten Geld kaufte er seinen Investoren die Rechte an der Maschine ab. Auch wenn er nach Washington und New York noch ein drittes Telharmonium mit den letzten Cents bauen sollte, das öffentliche Interesse verpuffte so schnell wie es sich aufgebaut hatte.
Neue Musik für eine alte Welt
Heute existiert keines der drei Telharmoniums mehr. Selbst Tonaufnahmen sind nicht bekannt. Unteranderem wohl auch deswegen, weil angeblich ein Geschäftsmann aus New York über die Störung des Telefondienstes so empört war, dass er in die New Yorker Telharmonic Hall stürmte, das Musikinstrument zerstörte und Teile in den Hudson warf. Auch wenn diese Geschichte sicherlich ins Reich der Legenden gehört, zeugt sie vom aufkeimenden Sturm der Entrüstung, die sich um die neue Technologie aufgestaut hatte. Letztlich hatte sich die Idee Musik per Telefon zu streamen nicht durchsetzten können. Der Sargnagel war dann die Erfindung des Röhrenverstärker im Jahr 1912 mit dem man Töne leise verschicken und sie am Ende der Leitung wieder laut ausgeben konnte. Erfinder und Wissenschaftler nahmen alte Kommunikationsexperimente wieder auf und kurze Zeit später entstand das Radio.
Thaddeus Cahill starb am 12. April 1934. Und mit auch das Telharmonium. Das letzte Exemplar landete einige Jahre nach Thaddeus’ Tod auf dem Schrottplatz. Zwar versuchte Arthur T. Cahill, der Bruder von Thaddeus, noch ein Zuhause für das einzige verbliebene Instrument im Jahr 1950 zu finden. Aber niemand zeigte Interesse. Also verkaufte er es. Der Legende nach wohl inklusive der Aschereste von Thaddeus. Die Basistechnologie jedoch überlebte. Viele der Konzepte aus dem Telharmonium wurden in den 1960ern in der Hammondorgel übernommen. Mit dem Unterschied, dass die elektrische Verstärkung sich zu einer Basistechnologie entwickelt hatte und die Hammondorgel „nur“ leichte 200 Kilogramm wog.
Was bleibt sind die frühen Geschäftsmodell-Experimente. Cahill’s Bemühungen zeugen vom Mut des Unternehmers. Seine Erfindung brach mit dem Status Quo. Sie war radikal und entfachte gerade deswegen Begeisterung. Er war ein Geschäftsmodell-Pionier. Sein Musik-as-a-Service Modell war der Zeit voraus. Er schuf magische Momente und verblüffte die Gesellschaft. Auch wenn seine Apparatur komplex war, das technisch-versiertere Radio einen noch größeren Markt schuf und sich On-Demand-Musik aus der Cloud und Streaming erst hundert Jahre später etablieren sollten. Es braucht Menschen wie Cahill, um Neues in die Welt zu bringen. Er schuf den ersten Dienst, der es amerikanischen Abonnenten erlaubte, Musik von ihren Telefonen zu streamen. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Schon gar nicht Apple Music, Spotify oder Rdio.
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