May 9, 2019
Tiefseeglasfasernetzwerke und ihre Rolle im Machtspiel um neue kritische Infrastrukturen
Pocket Guide to Digital Transformation - Reflexionen zu strukturellen Veränderungen, digitalen Konzepten und internetökonomischen Zukunftsperspektiven.
Das Internet. Neuland für den Einen. Für den Nächsten sind es fremde Computer und Dinge, zusammengeschaltet in einem Netzwerk, die ständig miteinander kommunizieren. Für den Dritten ist es Facebook oder WeChat. Für die liebenswerte Tante ist es schwarze Magie und für den Fussballkumpel irgendwas mit Cyber, weswegen er nicht bei Facebook ist.
Kaum eine Technologie wird dermaßen alltäglich benutzt, aber so wenig verstanden. Dabei nimmt die Nutzung und damit die verarbeitete Datenmenge Jahr für Jahr exponentiell zu. Im Jahr 2018 haben wir täglich rund 2,5 Millionen Terabyte an Daten erzeugt. Das entspricht etwa 425 Millionen HD-Filmen pro Tag oder einem Turm von 17,5km Höhe, wenn man handelsübliche 1TB SSDs übereinander stapeln würde. Im Jahr 2020 sollen schätzungsweise 1,7 MB Daten pro Sekunde für jeden Menschen auf der Erde entstehen. Cisco prognostiziert für 2022 einen jährlichen globalen IP-Verkehr von 4,8 Zettabyte oder 396 Exabyte pro Monat. Im Angesicht solcher Volumen, ist jeder Vergleich zum Scheitern verurteilt. Es fehlen äquivalente und begreifbare Größen.
Aufgrund der Komplexität hat sich (irgendwie auch verständlich) das Narrativ durchgesetzt, dass das Internet eine Wolke ist. Die “Cloud” ist ein mystischer und ungreifbarer Ort, in dem sich das Internet trifft, um zu kommunizieren, zu prozessieren und zu speichern. Wir verbinden uns mit ihr. Arbeiten in ihr. Wir speichern dort private Dinge und erfreuen uns am Stream fremder Personen. Wir vertrauen der Cloud, obwohl wir sie nicht verstehen. Sie ist alltäglich. Wir spüren sie nur, wenn sie kaputt ist. “Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.”
Wenn die Cloud aber etwas ist, dann eine schlechte Metapher. Sie ist nicht “da oben” zwischen den Satelliten, geformt im Äther von Adepten des Silicon Valleys. Sie ist nicht schwerelos, nicht formlos oder unsichtbar. Sie ist kein magischer Ort, wo alles reibungslos funktioniert. Die Cloud ist eine physische Infrastruktur, zusammengesetzt aus (fehlenden) Mobilfunkmasten, Milliarden von Glasfaserkabelkilometern, Telefonleitungen, Satelliten, energiefressenden und monoton summenden Hallen voller Computer und Unterseekabeln.
Release the Kraken!
Vor allem Kabel in den tiefsten Tiefen des Meeres beschreiben die Cloud besser, als alle Bilder, dir wir mit uns rumtragen. Bis 1988 wurden Kommunikationsdaten hauptsächlich über Satelliten übertragen. Dann wurde das erste Glasfaserkabel im Atlantik verlegt. Heute sind sie unverzichtbar. In diesem Moment reisen mehr als 99% aller internationaler Daten durch ein Geflecht aus faustdicken Glasfasertentakel am Meeresboden der Weltmeere. In den Weiten und Tiefen unserer Ozeane befinden sich rund 400 aktive Glasfaserkabel, die das Rückgrat des Internets bilden. Jährlich werden mehr als 2 Milliarden Euro für den Ausbau und die Instandhaltung ausgegeben. Technologische Innovationen, Forscherdrang und viele Monate der Streckenerkundung haben es in den letzten 200 Jahren möglich gemacht, dass bisher mehr als 1,2 Millionen
Kilometer Seekabel in jedem Winkel der Welt verlegt wurden.
Abbildung 1: Eine relativ kleine Anzahl von etwa 400 Kabeln ist für die Übertragung von 99% des transozeanischen Internetverkehrs verantwortlich, TeleGeography Submarine Cable Map
Abbildung 2: Das Eastern Telegraph Company Netzwerk im Jahr 1901. Merke: Neue Infrastrukturen folgen alten Infrastrukturen. Glasfaserkabel folgen Telefonleitungen, die Telegrafenleitungen folgen, die Eisenbahnen folgen.
So liegt ein bierdosendickes pechschwarzes Gummikabel im 8000 Meter tiefen Japangraben. Ein anderes Beispiel ist das von Facebook und Microsoft in Auftrag gegebene [6600 km lange Marea Seekabel](https://de.wikipedia.org/wiki/Marea_(Seekabel), welches Bilbao und Virginia Beach miteinander verbindet. Es liegt an der tiefsten Stelle 5181 Meter unter dem Meeresspiegel, wiegt über 4,5 Millionen Kilogramm und kann 20 TB/s (160 Tbit/s) in Spitze übertragen.
Das exponentielle Wachstum des globalen öffentlichen wie nicht öffentlichen Internetverkehrs hat in den vergangenen Jahren zu einem drastischen Ausbau des Kabelnetzes geführt, sowohl in Bezug auf die Anzahl der Verbindungen als auch auf die Gesamtkapazität. Cisco geht davon aus, dass 2017 durchschnittlich pro Sekunde 46,6 Terabyte durch das Internet flossen, 2022 könnten es bereits 150 TB/s sein. Das durchschnittliche Lebensalter eines Kabels beträgt deswegen auch 25 Jahre. Zwischen 2016 und 2020 sollen, wurden und werden deswegen rund 100 neue Kabel verlegt.
Abbildung 3: Anzahl aktiver Unterwasserkabel (links), Gesamtlänge der derzeit aktiven Unterwasserkabel pro Jahr (rechts). Enthält geplante Kabel bis 2020, Apnic 2019
Trotz hoher Installations- und Instandhaltungskosten (die Kosten für ein Tiefseekabel liegen im Schnitt zwischen 20.000 und 40.000 Dollar je verlegtem Kilometer; möchte man ein Schiff chartern, um Kabel zu verlegen, ist man zwischen 45.000 bzw. 75.000 Dollar am Tag los) sind Kabel billiger und effizienter als Satelliten. Auch wenn Mikro-Satelliten im erdnahen Orbit durch Unternehmen wie Amazon, SpaceX Starlink, Kepler Communications, Astranis, OneWeb und anderen derzeit einen Aufschwung erleben, können selbst die ältesten Kabel große Datenmengen nahe Lichtgeschwindigkeit übertragen. Satelliten hingegen sind teuer, langsam und haben
mit hohen Latenzen zu kämpfen.
Abbildung 4: Verlegung des ersten Unterseekabels in New York, welches die Ostküste mit Süd-Europa verband, Bundesarchiv
Doch trotz aller Vorteile, sowie der kritischen Rolle des Seekabelnetzwerks für Wirtschaft und Gesellschaft, wird das Netzwerk weitgehend ignoriert und oder als Black Box behandelt. Eine fahrlässige Einschätzung, wenn man an mögliche Risiken denkt. Wenn “nur” 400 Kabel für 99% des transozeanischen Sprach- und Datenverkehrs zuständig sind, bedeutet ein Teilausfall Alarmstufe Rot für globale Bandbreiten und Konnektivität. Koordinierte Ausfälle oder gleichgeschaltete Angriffe an bestimmten Kabeln können ganze Regionen aus dem Internet nehmen. Während Fehler auf dem Land zu Leistungseinbußen oder Unterbrechungen führen, können die Auswirkungen von Ausfällen unter Wasser verheerend sein. Auch weil Reparaturmaßnahmen Tage bis Monate in Anspruch nehmen können.
Die Cloud ist ein Machtspiel moderner internationaler Beziehungen um kritische Informationsadern und neue wirtschaftliche Handelsrouten Neben fehlender Bandbreite, ist mangelnde Infrastrukturzuverlässigkeit einer der Gründe, warum private Unternehmen wie Amazon, Microsoft, Google oder Facebook zunehmend in Seekabelinfrastrukturen investieren. Ihr Geschäft sind datengetriebene Informationsökosysteme. Ohne Zugang zum Internet, kein Umsatz. Es verwundert nicht, dass sie deswegen neben eigenen Cloud-Infrastrukturen auch Seekabel- oder Infrastrukturnetzwerke in Städten betreiben möchten.
Alphabet besitzt zum Beispiel über das Tochterunternehmen Sidewalk Labs die Mehrheitsanteile an LinkNYC. Nachdem Facebook seine Internetdrohnen aufgegeben und wieder reaktiviert hat, spielt das Unternehmen nun mit dem Gedanken, einen Unterwasserring namens Simba um Afrika zu errichten, um die Bandbreitenkosten zu senken und den afrikanischen Markt zu stärken. Viele afrikanische Regionen sind immer noch auf Satelliten angewiesen oder müssen sich auf eine oder zwei Kabelverbindungen stützen, die jederzeit ausfallen könnten.
In den letzten fünf Jahren haben sich die Kabel, die teilweise im Besitz von Google, Facebook, Microsoft und Amazon sind, verachtfacht. Viele weitere solcher Kabel sind in Vorbereitung. Nicht überraschend, wenn man den Verbrauch der Datengiganten zu Grunde legt. Sie beanspruchen knapp über 50% aller internationalen Bandbreiten. TeleGeography geht sogar davon aus, dass der Anteil bis 2027 auf über 80% steigen könnte. Dabei interessiert Google, Facebook, Amazon und Microsoft weniger der Bedarf des Endkunden, der im Internet surft. Es ist mehr ihr eigener Bedarf, der im Vordergrund steht. Sie brauchen die Kapazitäten für ihre Cloud-Dienste, die auf Rechenzentren zugreifen, die an vielen Stellen der Welt verteilt sind.
Abbildung 5: Investitionen der großen Digitalgiganten in physische Infrastrukturen, TeleGeography
Derzeit halten sich die Beteiligungen von Plattformunternehmen noch in Grenzen. Konsortien und Internet-Backbone Provider (Alcatel, Subcom, NEC und Huawei) teilen sich den Markt. GAFAM fokussiert heute maßgeblich tansatlantische und transpazifische Routen, um ihre Rechenzentren zu verbinden. Doch Routen wie Indien-Singapur oder Europa-Afrika sind bereits in Planung. Ein weiterer wichtiger Treiber kommt aus China: Die neue Seidenstraße wird auch ein neugeschaffenes Netz aus Unterwasserkabeln gebären.
Der Kampf um digitale Territorien und physische Infrastrukturen hat gerade erst begonnen
Neben Plattformmonopolen könnten infrastrukturelle Monopole entstehen, die in der Hand von Digitalgiganten oder starken Nationen liegen. Die Macht, das Kapital und die nötige Weitsicht besitzen sie, um den Weg nicht nur einzuschlagen, sondern auch zu dominieren.
Der Kampf um Einfluss und Kontrolle über die wichtigsten globalen Informationsadern hat längst begonnen. Das Kabelnetz unter Wasser beschreibt neue, dominante wirtschaftliche Handelsrouten. Daten sind dabei die wichtigste Handels- und Transitware. Google, Microsoft und Amazon sowie ihre chinesischen Pendants halten den Löwenanteil an Daten im Cloudgeschäft. Ergo macht sie dies zu den wichtigsten Exporteuren und Importeuren von Daten. Der Gedanke, dass sich diese Unternehmen zu einem Oligopol zusammenschließen, um die Informationsadern, die für sie überlebenswichtig sind, zu besitzen, liegt nahe.
Ein Kartell könnte entstehen, denn Skaleneffekte würden es den Unternehmen ermöglichen, den Endverbraucher mit reduzierten Preisen für ihre Services einzulullen und zu umgarnen. Der direkte Datenaustausch zwischen Unternehmen soll bis 2021 das öffentliche Internet um den Faktor 10 übertreffen. Ein einträgliches Geschäft, wenn man die Handelsrouten und die größten datenverarbeitende Knotenpunkte besitzt. Kleinere (europäische) Wettbewerber hätten hier erneut das Nachsehen. Sie würden zur Kasse gebeten, wenn sie die Kabel und die Bandbreite benötigen. Die wichtigsten Beteiligungen der Deutschen Telekom liegen übrigens fast zwei Jahrzehnte zurück.
Rein theoretisch würde dann auch nichts dagegen sprechen, den kompletten Datenfluss anzuzapfen, damit die Besitzer der Routen und Knoten ihre eigenen Services besser machen können. Eine mittlerweile gängige Praxis. Und nebenbei ein weit geöffnetes Tor für starke politische Akteure.
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Infrastruktur
Netzwerke
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mediumthoughts
May 4, 2019
Things can be simple (sometimes)
2000 🇺🇸🖥📈🎓, 🇪🇺🚗💸🤷♂️,🇨🇳🤷♂️
2005 🇺🇸🖥🎓🏆,🇪🇺🚗💸🤷♂️,🇨🇳🥺🇺🇸
2010 🇺🇸💻🛍🎓🏆,🇪🇺🚗💸🤷♂️,🇨🇳🤔📱🔋🛵🚝🚄🎓
2015 🇺🇸📱🛍🏆,🇪🇺🚗💸 🛂🇺🇸📱,🇨🇳🖕🇺🇸👊📱💻🔋🎓💪🚘🚝🚄
2020 🇺🇸📱📉🛍🥺🇨🇳,🇪🇺🍺🔋♻️🛵😘🇺🇸,🇨🇳📱💻⛓🛍🤖🚀🛰🧫🧬💉🔋🚘🚝🚄⚡🏆💰🙌💪👊🖕🇺🇸🇪🇺
Pocket Guide to Digital Transformation
shortthoughts
April 23, 2019
Things don’t repeat themselves, but they often rhyme
Pocket Guide to Digital Transformation - Reflexionen zu strukturellen Veränderungen, digitalen Konzepten und internetökonomischen Zukunftsperspektiven.
Informationstechnologien haben grundlegend Arbeitsmärkte und Wertschöpfungen verändert, die Produktion und Verbreitung von Wissen transformiert sowie Politik, Kultur und Religion überarbeitet. Klingt vertraut? Stimmt. Nur trifft das nicht nur auf Entwicklungen der letzten Jahre zu. Die Einführung der Druckmaschine von Johannes Gutenberg prägte die europäische Gesellschaft ähnlich nachhaltig, wie das Internet heute uns prägt. Aber von Anfang an:
In der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts gab es im beschaulichen Rheinland mehr Winzereien und Rebflächen, als im Jahr 2019. Das lag nicht nur am Durst oder daran, dass der Wein wegen seines Alkoholgehaltes oft keimärmer und sauberer als Wasser war. Auch eine technologische Revolution hatte ihre Finger im Spiel. Die Effizienz und Effektivität der neuesten Spindelpressengeneration war bis dato unbekannt und machte die Weinproduktion erheblich einfacher.
Die Weinkelter waren es auch, die, zwischen 1440 und 1450, den erfolglosen rheinischen Unternehmer Johannes Gutenberg dazu verleiteten, bewegliche Lettern in eine modifizierte Traubenpresse zu integrieren, um mit ihr Bücher in Masse zu drucken. Was folgt, ist hinlänglich bekannt. Die Druckpresse breitete sich rasch über die Grenzen von Mainz hinaus aus, denn die Logistikkosten für gedrucktes Material waren noch zu hoch. Es formten sich hochkonzentrierte lokale Wirtschaften, die geprägt waren von gewinnorientierten Unternehmen mit hohen Fixkosten.
1467 fand die erste Druckpresse ihren Weg nach Rom. Sechs Jahre später begann eine Maschine in Barcelona Bücher zu drucken. 1475 folgte Modena, 1496 Granada und um 1500 hatte jede fünfte deutsche, schwedische, schweizerische, dänische oder niederländische Stadt eine eigene Druckerei. Es folgte ein radikaler Preisverfall für gedruckte Werke. Zwischen 1450 und 1500 sank der Preis für Bücher um zwei Drittel. Das Speichern und Übertragen von Wissen wurde erschwinglich und zunehmend wurde Latein durch den lokalen Volksmund ersetzt.
Zwischen 1500 und 1600 wuchsen Städte mit Druckereien zwischen 20 und 80 Prozent schneller, als Städte ohne Druckereien. Historiker gehen sogar davon aus, dass die Wohlfahrtswirkung des gedruckten Buches einer Einkommenssteigerung von 5% in den 1540er Jahren und einer Einkommenssteigerung von 10% in den 1690er Jahren entsprach. Zum Vergleich: Die gleiche Methodik legt nahe, dass die Wohlfahrtsauswirkungen des PCs in den Vereinigten Staaten in den 2000er Jahren einer Einkommenssteigerung von 2-3% entsprachen.
Die globale Ausbreitung des Buchdrucks läutete einen der wichtigsten Paradigmenwechsel der modernen Menschheitsgeschichte ein
Über hunderte von Jahre führten elitäre Gemeinschaften von Mönchen die Zivilisation durch ein dunkles Zeitalter und hüteten das Wissen und hielten es am Leben. Nur sie hatten Zugang zu privilegierten Informationen, privilegiertem Wissen und privilegierten Werkzeugen. Dann kam die Druckmaschine und hat alles durcheinander gebracht. Mit der Verbreitung von Lesematerial wuchs die Lese- und Schreibkompetenz exponentiell, was in der Folge zu dichten und vernetzten Kommunikationsnetzwerken in Mitteleuropa führte. Die Bevölkerung musste sich nicht mehr auf Redner und Prediger verlassen, sondern konnte neue Ideen und Sichtweisen durch Bücher und Schriften erfahren. Nicht vorhandenes Wissen - vor allem grundlegendes mathematisches Wissen, Buchhaltungstechniken und bargeldlose Bezahlsysteme (!) - wurde plötzlich verteilt zugänglich, sodass eine neue moderne Wirtschaft aus der Taufe gehoben werden konnte.
Abbildung 1: Das Smartphone des 15. Jahrhunderts, Wikipedia
Ohne Gutenberg wäre auch Luther im langen Atem der Geschichte verschwunden. Doch die verteilte Druckmaschineninfrastruktur und der Wettbewerb zwischen den Druckern in Europa haben es seinen Thesen ermöglicht, sich innerhalb von wenigen Monate über das deutsch-sprechende Mitteleuropa zu verteilen. Die Druckpresse ist damit zu einem zentralen Katalysator der Reformationsbewegung geworden und entfesselte eine europäische Revolution nach der nächsten, was schlussendlich in chaotischen Tumulten und schwerwiegenden Kriegen endete.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich - Warum man die Erfolgsgeschichte des Internets mit der Druckpressenrevolution vergleichen kann
Die Geschichte des Internets ist in Zügen vergleichbar mit der Erfolgsgeschichte der Druckpresse. Tim Berners-Lee entwickelte seine Protokolle für den wissenschaftlichen Datenaustausch von Hypertextdokumenten. In dieser dynamischen Ursuppe entstanden die Grundsteine neuer technologischer Infrastrukturen, welche uns auf eine Art und Weise vernetzen, wie es damals Luther’s Pamphlet oder Bücher im Allgemeinen taten.
Der Preisverfall eines PCs zwischen 1977 und 2004 folgt einer ähnlichen Entwicklung wie der Rückgang des Preises für ein Buch in England zwischen den 1490er und 1630er Jahren. Lernte damals die Menschheit Lesen, um Zugang zu Wissen in Büchern zu erhalten, lernen wir heute im Internet zu surfen, um Zugang zu Wissen in Datenbanken zu erhalten. Noch nie zuvor waren so viele Menschen in einem Netzwerk miteinander verbunden, über das sich Informationen und Memes in Lichtgeschwindigkeit verbreiten.
Abbildung 2: Preise und Anzahl von Büchern und PCs, 1490-1630 bzw. 1977-2004, Dittmar (2011)
Die Druckpresse und das Internet veränderten maßgeblich den öffentlichen Raum. Beide Entwicklungen entzogen zentralisierten und hierarchisch organisierten Institutionen die Macht und stärkten den Einzelnen. Diese Disintermediationsdynamiken führten dazu, dass Medienkonsum und -produktion zu einer geteilten Aktivität wurden. Der Fluss von Informationen und Narrativen wechselte von “Oben nach Unten” hin zu horizontalem Austausch über Hierarchieebenen hinweg.
Allerdings mussten sich beide Entwicklungen eingestehen, dass ihre utopischen Ziele von technologiegetriebener Gleichheit und Brüderlichkeit Wunschträume blieben. Der Erfolg des Buchdruckes hatte zur Folge, dass sich im 16ten und 17ten Jahrhundert hunderte von Sekten ausbreiteten und die mitteleuropäische Gesellschaft von einem Hexenwahn befallen war. Ähnliches erleben wir heute in einer anderen Form: Ohne das Internet, hätten sich die Gräueltaten von ISIS und anderen politisch-motivierten Gewalttätern nicht so schnell ausbreiten und über den Erdball in lokalen Zellen manifestieren können. Versank Europa in der Mitte des 15ten Jahrhunderts in religiösen Kriegen, wird Territorialhoheit heute vor allem digital ausgefochten (siehe Wahlen in den Vereinigten Staaten 2018, Angriffe auf kritische Infrastrukturen, politisch-motivierte Investitionen in Grundlagentechnologien und globale disruptive Geschäftsmodelle etc).
Der Unterschied zwischen Gestern und Heute - Monopolistische Tendenzen und rapide wachsende Ungleichheit
Die Internetrevolution ist um mehrere Größenordnungen schneller und verteilter als Druckpressenrevolution. 1998 waren nur knapp 3% der Menschheit an das Internet angeschlossen. Heute sind bereits 55% der Weltbevölkerung mit einem Internetzugang ausgestattet. Was damals Jahrhunderte dauerte, dauert in unserer Zeit nur noch Jahrzehnte. Auch wenn die Rate an Smartphoneverkäufen und Internetnutzern nicht mehr dramatisch steigt, wächst sie dennoch stetig. Zudem können immer mehr Menschen über das Internet kommunizieren, weil wir uns weg von Schrift hin zu Bildern, Video und Sprachaufnahmen bewegen.
Betrachtet man die sozio-ökonomischen Konsequenzen, lässt sich ein weiterer Unterschied feststellen. Gutenberg wurde kein Bill Gates seiner Zeit. Fehlende Schutzrechte und Monetarisierungsmodelle für Druckerzeugnisse führten dazu, dass Gutenberg und seine Mitstreiter keine Milliardenvermögen über Technologiepatentmonopole anhäuften. Im Gegensatz dazu haben wir heute ungleich verteile Netzwerksuperknoten, die ihre Technologien verschließen und schützen. Egal of Software, Hardware, Services oder Kommunikationsinfrastrukturen. Überall entstehen dominante Oligopole.
Auch wenn Facebook, Apple, Netflix und Google offene und verteilte Netzwerke fördern, streben sie monopolistische Macht in ihren jeweiligen Segmenten an. Hinzukommen ungleich verteilte zögerliche Regierungen und Regulatoren. Es verwundert daher nicht, dass das offene und verteilte Internet am Ende sehr konzentriert in der Hand der Unternehmen liegt, welche die Netzwerke, Infrastrukturen, Plattformen und damit auch die neu entstandenen Märkte kontrollieren. Mit der Konsequenz, dass Ungleichheit rapide wächst.
Früher waren es Kirchen, heute sind es geschützte heilige Serverhallen, die unergründliche Macht demonstrieren
Die durch den Buchdruck eingeläutete Ära nach 1500 war geprägt durch folgenschwere Revolutionen. Doch die Menschheit knüpfte immer fruchtvollere Netzwerke und verabschiedete sich sogar nachhaltig von religiösen Hierarchien. Die Wechselwirkung zwischen Technologie und Wettbewerb hatte zudem erhebliche Auswirkungen auf das Wirtschaftleben und Produktion im Allgemeinen. Die Wirkungen waren multidimensional, auch weil Reaktionszyklen und -schleifen sich gegenseitig verstärkten. Doch was geschieht heute?
Abbildung 3: Facebook’s heiliges Rechenzentrum in Prineville, Oregon, Wikimedia
Sicher ist, dass die erfolgreichsten digitalen Unternehmen unsere Zeit die Zukunft stark romantisieren. Sie wollen mit ihren Plattformen Gleichheit und Chancen für Alle fördern. Doch die Wahrheit ist, dass sie sich selbst immer weiter von dem romantischen Ideal entfernen. Sie fördern den Gedanken von freien Netzwerken, besetzen aber essentielle und kritische Infrastrukturen. Unterseekabel, Satellitennetzwerke, Glasfasernetzwerke oder Hallen voller Server sind in der Hand von immer weniger Unternehmen. Zwar haben sie weltumspannende Netzwerke ermöglicht und neue Märkte geschaffen, doch geleitet und betrieben werden sie von Wenigen in einer strikten hierarchischen Struktur (welche stark anfällig für extreme politische Einflüsse sind).
Die Utopie eines freien Internets ist und bleibt eine Utopie. In der Realität teilen sich die größten amerikanischen und chinesischen Digitalunternehmen das globale Internet. Virtuell wie zunehmend auch physisch. Europa hat den Anschluss verpasst und versucht über Regulation zu retten, was zu retten ist (siehe Kartellrecht, rückwirkende Steuergesetze, Diskussionen über Datenschutz und Datensicherheit etc). China hingegen hat den Kampf frühzeitig angekommen, dominante amerikanische Netzwerkknoten ausgeschlossen und bessere, eigene Plattformalternativen und -märkte aufgebaut.
Wenn man etwas aus dem Vergleich “Druckpresse und Internet” lernen kann, dann, dass wir möglicherweise erst in den Kinderschuhen einer weitreichenden und nachhaltigen Veränderung stehen, die ebenfalls geprägt sein wird von Umbrüchen und Revolten. Der Kampf um digitale Territorien und physische Infrastrukturen hat gerade erst begonnen.
// Hinweis: Dem Text grundlegende Überlegungen entstammen Niall Ferguson’s The Square and the Tower: Networks, Hierarchies and the Struggle for Global Power. Keine uneingeschränkte Empfehlung.
Pocket Guide to Digital Transformation
mediumthoughts
January 1, 2019
Networks = Thought Styles
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January 1, 2019
Die richtige Information, zur richtigen Zeit, kann machtvoller sein, als jede Waffe.
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January 1, 2019
Looking backwards
Hindsight is always precise.
thoughts
January 1, 2019
Disruption
Erst, wenn wir uns eine Welt ohne die angebliche Disruption nicht mehr vorstellen können, ist es eine Disruption.
thoughts
January 1, 2019
Pocket Guide to the Future
Die Tage sind lang, aber die Jahre kurz.
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December 10, 2018
Things aren’t disruptive until they’re ubiquitous
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Revolutionäre Produktinnovationen besitzen zwar das Potential strukturelle Veränderungen anzustossen, doch oft vergehen Jahre, bis eine tiefer gelagerte infrastrukturelle Verschiebung neue Markt- und Wertschöpfungsnetzwerke gebiert. Erst diese Dynamiken verändern bestehende Märkte nachhaltig und stören etablierte marktführende Unternehmen, Produkte und Allianzen. Dennoch nennen wir heute alles disruptiv, was nur in Ansätzen visionär klingt und technologiegetrieben ist. Das führt zu einer kognitiven Verzerrung. Wir lassen Disruptoren hochleben und begeben uns in die Rolle von Beobachtern und Getriebenen. Disruption bedeutet jedoch permanente Störung und damit gleiche Chancen für alle.
“Junge Technologieunternehmen sind disruptiv. Sie zerstören ganze Branchen, zerrütten Wertschöpfungsketten und leiten den Abgesang jahrzehntealter tradierter Unternehmen ein. Besonders Unternehmen mit einer Bewertung von einer Milliarde US Dollar und mehr treiben träge Märkte in einer atemberaubenden Geschwindigkeit vor sich her und überraschen zukunftsblinde Organisationen dann, wenn es bereits zu spät ist. Sie verändern das Zusammenspiel aller beteiligten Branchenakteure, definieren Produkte und Zugänge neu, erheben einen Anspruch auf die Branchenzukunft und verdienen eine Menge Geld. Startups machen die Welt zu einem besseren Ort.“
So oder so ähnlich klingt ein zur Zeit gängiges Narrativ, in dem viel Wahrheit aber auch Selbstsucht steckt. Natürlich lässt sich über die Dimensionen des Begriffes Disruption im jeweiligen Kontext streiten. Vor allem, wenn über die Auswirkungen von Startups und einzelnen Unternehmer diskutiert wird. Allerdings wird der Begriff kaum noch dafür benutzt, paradigmatische Verschiebungen in ihrer strukturellen Gesamtheit zu beschreiben. Im Gegenteil. Disruptiv ist im Digitalen zunehmend all das, was technologiegetrieben ist, visionär klingt, ein Hauch von undefiniertem Disruptionspotential aufweist und eine Milliardenbewertung nach sich zieht.
Disruption braucht Zeit
Natürlich darf man den Erfolg dieser Unternehmungen nicht schmälern. Selten werden aber disruptive Innovationen oder weltverändernde Technologien aus der Taufe gehoben, wenn sich kreative Unternehmer und Risikokapitalgeber zusammentun. Es ist mehr die Summe radikaler und revolutionärer Entwicklungen oder Anwendungen (unerwartete Sprünge im Produkt- oder Serviceangebot bzw. in der Verfügbarkeit) über einen längeren Zeitraum, welche zu einer gesamtheitlichen, nachhaltigen Verschiebung auf Marktebene führt. Erst wenn selbstverständliche und wesentliche Überzeugungen und Handlungsmuster im Markt oder in der Gesellschaft durch neue Dynamiken und Mechaniken ersetzt wurden, sollte man von einer disruptiven Entwicklung sprechen. Häufig liegen jedoch Jahre bis Jahrzehnte zwischen den einzelnen definierenden Innovationen und der gesamtheitlichen Verbreitung und im Kopf bleiben nur die Erfinder oder dominanten Unternehmen der ersten Jahre:
- Die Glühlampe wurden von Thomas Alva Edison im Jahr 1879 erfunden. Erst nach dem zwei Jahre später einsetzenden Stromkrieg haben sich Stromnetze verbreitet. Man braucht das Stromnetz letztlich nicht, um Glühbirnen zu benutzen. Aber um die breite Akzeptanz von Glühbirnen beim Verbraucher zu steigern, brauchte man das Stromnetz. Ähnlich verhält es sich mit der Verbreitung Flugzeugen. Diese gab es mit den Brüdern Wright ab dem Jahr 1903. Aber erst die ersten Fluggesellschaften ab dem Jahr 1919 und die ersten Flughäfen ab dem Jahr 1928 und die Flugsicherung im Jahr 1930 machte das Fliegen angenehm und erschwinglich.
- Carl Benz hat 1885 seinen Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 vorgestellt. Das erste praxistaugliche Automobil. Aber erst Henry Ford hat 1908 mit der Fertigungsmodelllinie des Ford Modell T dafür gesorgt, dass das Auto nach dem ersten Weltkrieg seine Verbreitung fand.
- Die Geschichte des Internets reicht bereits ein halbes Jahrhundert zurück. Zwar gibt es E-Mails schon seit den 1960er Jahren, File-Sharing seit den 1970ern und TCP/IP wurde 1973 erfunden (aber erst 1982 standardisiert). Aber es war die Erfindung des World Wide Web im Jahr 1989, die unsere Kommunikation revolutionierte. Es folgten Webportale (Prodigy 1990, AOL 1991), die zum Aufbau von Infrastrukturen (Suchmaschinen und Webbrowser in den frühen 90er Jahren) führten. Darauf bauten Unternehmen wie Amazon ihre ersten Erfolge, was zu infrastrukturellen Verbesserungen (PHP im Jahr 1994, Javascript und Java im Jahr 1995) führte. Diese machten es einfacher Websites zu bauen und es folgten Napster (1999), Pandora (2000), Gmail (2004) und Facebook (2004) welche wiederum Infrastrukturen wie NGINX oder Ruby on Rails (2004) beziehungsweise AWS (2006) nach sich zogen.
- Beim mobilen Internet denken wir alle an Steve Jobs und das erste iPhone im Jahr 2007. Jedoch nicht an die fehlgeschlagenen und Prototypen anderer Unternehmen davor oder an die iOS App Store und Android App Store Plattformen aus dem Jahr 2008, die die Verbreitung von Smartphones befeuert haben und obligatorisch für den Erfolg von mobilen Marktplätzen wie Uber (2009), Instagram (2010), Snapchat (2011) oder Whatsapp (2009) gewesen sind. Oder an den iPod, der uns gelehrt hat, mit einem handgroßen Device umzugehen. Oder an die Multi-Touch Gesten, welche die Handhabung erst haben “magisch” werden lassen.
- Oft wird gerne vergessen, dass Amazon mit einem Streckengeschäftsmodell im Jahr 1994 in einer Garage begonnen hat. Erst mit dem Jahr 2015 zeigte sich (Amazon rangierte 2015 noch auf Platz 43 der erfolgreichsten Unternehmen weltweit), welche Folgen Beharrlichkeit, Umsetzungskompetenz und Investitionen in Infrastrukturen haben können.
Disruption braucht mehr als Produkt- oder Technologieinnovation
Ein Grund für die Spanne zwischen Erfindung und breiter Innovationsadoption ist, dass fast alle großen Verschiebungen mit erfolgversprechenden, aber doch häufig zu teuren, risikobehafteten oder anfälligen Anwendungen starteten (wer erinnert sich nicht gerne zurück, an das anstrengende Bestreben mit Bitcoin in einem Ladengeschäft zu bezahlen). Oft folgt eine Phase, in der die härtesten Probleme dieser besonderen Anwendungen auf einem infrastrukturellen Level durch Technologien gelöst werden. Dies ebnet den Weg für eine zweite Welle von Anwendungen, die effizienter, effektiver und kostengünstiger sein können und damit einen deutlich breiteren Markt erreichen. Man sollte beim Betrachten deswegen die Inventionsphase von der Innovationsphase trennen. Gleichzeitig sollte man sich aber auch fragen, was all diese Dinge zugänglich macht? Ist es das Produkt und damit die Erfindung selbst, oder nicht doch eine folgende Kultur-, Preis-, Finanzierungs-, Usability-, Verteilungs- oder
Fertigungsinnovation? Niemand hätte zum Beispiel in den 1990ern auch nur einen Cent auf ein Betriebssystem gesetzt, das von einer dezentralen Community programmiert und kostenlos verbreitet wurde. Heute sind Milliarden von Internetnutzern vom Linux Betriebssystem abhängig.
Abbildung 1: Links Lady Norman auf ihrem Scooter, rechts Bird Scooter im Silicon Valley
Ein weiteres Beispiel dafür ist die gegenwärtige Tendenz zur Mikromobilität, welche die Automobilindustrie im Ganzen möglicherweise stärker verändern wird, als es beispielsweise der große Disruptor Tesla tun wird. In den letzten drei Jahren hat sich die individuelle Mobilität radikal gewandelt. Kleine, ubiquitär verfügbare Fahrzeuge locken Nutzer im Urbanen weg von schweren und ineffizienten Alternativen. Dockless Bike oder E-Scooter Sharing Angebote sprießen wie Pilze aus dem Boden und haben global fast 500 Millionen Nutzer angezogen. Die Startups Bird und Lime kamen gemeinsam im ersten Jahr auf 20 Millionen E-Scooter-Fahrten. Über 3 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung wurden in einem Jahr geschaffen, und erste Hersteller reichen die Unterlagen für einen Börsengang ein. Das Zusammenspiel aus günstiger Produktfertigung, einigermaßen performanten Batterien, ubiquitären Smartphones, digitalen Geschäftsmodellen und Shared Mobility Nutzerakzeptanz verändern eine tiefergelagertes
Konsumverhalten, dass im Resultat zu einer strukturellen Veränderung von Mobilitätsbedürfnissen führt, welche mittelfristig disruptiv auf die Automobilbranche wirkt.
Eine Frage, die sich mit Blick auf 2018 aufzwingt, lautet: Was ist mit der Künstlichen Intelligenz, der Blockchain, den selbstfahrenden Autos, dem Internet of Things, der Mixed Reality und all den anderen disruptiven Technologien? Ja, sie alle werden getragen vom medialen Hype. Besonders Startups erhalten einen großen Stück des medialen Kuchens. Sie popularisieren, was am Ende zu einem größeren Ertrag führt und den Risikokapitalgeber freut. Häufig wird aber das Marketingversprechen erst mit späteren Produktgenerationen erreicht (siehe Smartwatches oder Mixed Reality). Denn Disruption braucht Zeit und Infrastruktur. So hat es bei manchen Technologien zwar übergreifend etwas länger gedauert - Machine Learning, selbstfahrenden Autos oder Mixed Reality sind von der Invention / Anwendung her erstmal kalter Kaffee - aber man darf nie vergessen, dass wir nur mit den Werkzeugen und Infrastrukturen arbeiten können, die uns auch zur Verfügung stehen. Die meisten langfristigen Entwicklungen
nehmen heute konkrete Form an, weil digitale Infrastrukturen gesetzt sind und sie so einem breiten Mainstream bekannt gemacht werden konnten, was Praktiken nachhaltig verändert hat. So konnte Youtube erst 2005 gebaut werden, weil die Bereitstellung von Infrastrukturen wie Breitband, Datenspeicher und mobilen CPUs gegeben sein musste. Hätte in den 1990ern ein Internet existiert, wäre das noch längst kein Erfolgsgarant für Instagram gewesen. Erst in Kombination mit der ubiquitären Verbreitung von Smartphonekameras und der Adaption von Social Media konnte aus einer kleinen Idee eine disruptive Entwicklung werden.
Da wir heute immer mehr Innovations- und Technologieplattformen mit angeschlossenen Ökosystemen bauen, um immer mehr Menschen und Objekte online zu bringen, folgen konsequenterweise auch hochfrequente Anwendung-Infrastruktur-Zyklen. In den frühen 2000ern waren weniger als 100 Millionen Menschen online. Heute sind es mehr als 3 Milliarden. Tendenz stark steigend. Gab es damals nur proprietäre Hard- und Software, benötigt man heute dank Open Source und Virtualisierung nur einen Bruchteil der Infrastrukturinvestitionskosten von vor 20 Jahren. Im Bereich Machine Learning erleben wir zur Zeit, dass auf die ersten ambitionierten und “erfolgreichen” Anwendungen im Endkonsumentengeschäft (virtuelle persönliche Assistenten wie Amazon Echo oder Apple Siri) und in der Industrie (bspw. Predictive Maintenance) nun massive Investitionen (Talent und Kapital) in Grundlagentechnologien folgen. Aber auch die Blockchain - wo der Unterschied zwischen Anwendung (Bitcoin, 2008; ICO/Tokens, 2016;
Cryptokitties, 2017 oder Augur, 2018) und technologischen Plattformen (Coinbase, 2012; Ethereum, 2015) noch klarer ist - zehrt vom Zyklus Anwendung-Infrastruktur-Anwendung und wird sehr wahrscheinlich in der Summe disruptiv wirken, weil die ärgsten Probleme bereits selektiert sind und an infrastrukturellen Lösungen gearbeitet wird.
Disruption bedeutet permanente Störung und damit gleiche Chancen für alle
Gibt es eine magische Formel, die einem verrät, wann und wo sich welche mögliche disruptive Entwicklung durchsetzt? Sehr wahrscheinlich nicht. Niemand hätte um 1900 in Glühbirnen investiert. Oder den Airbnb Gründern im Jahr 2008 Geld für die Idee gegeben, dass man sein Bett oder seine Couch zukünftig über eine Onlineplattform an Wildfremde vermittelt. Disruption ist keine einmalige Explosion oder Wette, die man nicht verpassen darf. Es ist mehr ein Zusammenspiel aus soziokulturellen, technologischen, ökonomischen und politischen Faktoren, sowie vielschichtigen Ökosystementitäten und -akteuren in der Zeit, die sich untereinander anpassen, abstossen und Neues formen. Häufig auf einer infrastrukturellen Ebene, die die Dimensionen des Erfolges von darauf aufbauenden Anwendungen in der Breite definiert. Veränderung ist unvermeidlich. Grundlegende digitale Infrastrukturen sind in der breiten Masse verfügbar und ermöglichen die Adressierung von Millionen, wenn nicht sogar Milliarden
innerhalb kürzester Zeit. Disruption bedeutet deswegen langfristig permanente Störung durch radikale und erhaltende Innovation auf diversen Leveln. Technologie ist dabei nur ein Treiber unter vielen. Innovationen im Bereich Service, Produkt, Geschäftsmodell oder Management sind mindestens genauso wichtig, denn sie ermöglichen den Zugang zur breiten Masse.
Die gefühlte Omnipräsenz von Disruption zeigt, dass das Konzept in der Breite angekommen ist und dass Wirkungen von strukturellen Veränderungen zunehmend als Konstante begriffen werden. Das ist der erste Schritt. Man darf jetzt nur nicht den Fehler begehen und sich zum Besucher oder Beobachter einer disruptiven Veränderungen in der eigenen Branche degradieren zu lassen. Es besteht kein Anlass, dem zu folgen, der das Disruptionsnarrativ für die Branche vorgibt. Wir alle sind den gleichen strukturellen Veränderungen und damit auch neuen Wettbewerben, Partnern oder Allianzen ausgesetzt. Wir alle müssen unser Verständnis von Akteueren, Umfeldern und Strategien neu ausloten. Wir alle merken, dass wir uns an etwas abarbeiten, das wir noch nicht richtig fassen können. Deswegen ist es wichtig, Entwicklungen und sich wandelnde Systeme zu antizipieren und zu managen. Erst wenn man die Veränderungen versteht, kann man neue Ideen entdecken, zukünftige Märkte identifizieren und robuste
Strategien für unsichere Zukünfte entwickeln.
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Krupp—Roller
Pocket Guide to Digital Transformation
mediumthoughts
May 10, 2018
Things move faster in the long term than in the short term
Pocket Guide to Digital Transformation - Reflexionen zu strukturellen Veränderungen, digitalen Konzepten und internetökonomischen Zukunftsperspektiven.
Digitale Entwicklungen bewegen sich über kurze Laufzeiten langsamer, als wenn man eine längerfristige Perspektive einnimmt. Es empfiehlt sich zweimal soweit zurück zu blicken, wie man vorausschaut (als Beispiel: Android Smartphones und Chrome sind erst 10 Jahre alt). Auch, weil plattform-basierte Geschäftsmodelle in der Anlaufphase häufig träge wachsen. Setzt ein positiver Netzwerkeffekt ein, bewegt sich das Modell exponentiell. Morgen und Übermorgen sind dann Welten voneinander entfernt.
Digital kennt keine Geduld. Die wenigsten agieren aus einer Position der Stärke heraus und besitzen genügend Durchhaltevermögen, Wissen über Veränderungen oder haben Zugang zu nötigem Talent, um beharrlich und gut vorbereitet ein beständiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Hinzu kommt die fehlende Nachsicht von Technologieoptimisten, Trendforschern und Beratern, wenn das Heilsversprechen einer Technologie länger als ein Jahr auf sich warten lässt oder doch nicht so disruptiv wirkt wie gedacht. Es ist schon fast tragisch, wie häufig “vielversprechende” und “geliebte” Trends und Technologien in der Versenkung verschwinden, weil die transformative Kraft aufgrund vorher unbekannter (oder bewusst ausgeblendeter) Variablen sich nicht entfalten konnte und damit die mediale Aufmerksamkeit abnimmt. Anderen - vor allem Zynikern - mangelt es häufig an Vorstellungskraft, wenn es um mehrere Facetten von Zukünften geht und Realisten verweisen gerne auf den Status Quo, der per Gesetz die Zukunft
nicht vorwegnimmt, weil die Zukunft ungewiss ist.
Abbildung 1: Der erste iPhone Prototyp
Deswegen ist es schwer, eine sachliche geteilte Diskussion über die Auswirkung und Pfadabhängigkeiten von Digitaltechnologien und -innovationen zu führen. Besonders dann, wenn man unternehmerisch zu entscheiden hat, welche priorisiert betrachtet werden sollen. In Zeiten zunehmender Volatilität und Komplexität ist das Unterfangen sogar noch schwieriger, da Akteure, Ereignisse und Entwicklungen einer zunehmenden Mehrdeutigkeit unterworfen sind, die heutzutage kaum noch zu entschlüsseln ist. Dies gipfelt im Bedenken, dass man mit seiner Innovation zu spät sei oder nicht die Umsetzungskompetenz besitzt. Ergo lässt man es lieber gleich und setzt weiterhin auf erhaltende Innovation.
Diese Ansichten lassen sich manchmal auflösen, wenn man darauf hinweist, dass Veränderung und Wandel Zeit benötigen. Wirft man den Blick zweimal so weit zurück, wie man vorausschauen will, stellt man fest, dass bereits relativ viel passiert ist. Zum Zeitpunkt der letzten Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 existierten Uber, Instagram, Bitcoin, WhatsApp, WeChat oder Spotify noch nicht. Amazon beschäftigte “nur” 20.000 Mitarbeiter. Apple hatte 2008 erst knapp mehr als 12 Millionen iPhones verkauft (der App Store wurde 2008 gelauncht, das erste iPad ging 2010 über die Ladentheke) und hat “nur” $37,5 Milliarden Umsatz gemacht. Der mit Amazon kombinierte Unternehmenswert betrug $170 Milliarden, im September 2018 waren es $2 Billionen. Der gemeinsame Umsatz von Google, Facebook und Twitter betrug $22 Milliarden. 10 Jahre später ist es das siebenfache. 2008 hatte Netflix 8,6 Millionen Abonnenten, heute sind es über 135 Millionen. Facebook - heute mit 2,2 Milliarden Nutzern - hatte vor zehn
Jahren gerade mal 100 Millionen Menschen überzeugen können und überholte damit das damals dominierende soziale Netzwerk MySpace.
Abbildung 2: HTC Dream oder auch T-Mobile G1, das erste Android Telefon. Veröffentlichung Herbst 2008, Sergey Brin und Larry Page standen mit Inline Skates auf der Bühne
Die Halbwertszeit von Zukunft lässt sich daher erst rückblickend bestimmen. Man sollte ihr mit Geduld begegnen. Vor allem dann, wenn man es mit grundlegenden Technologien und Infrastrukturen wie dem Internet, dem mobilen Internet oder möglicherweise zukünftig relevanten Technologieplattformen wie Künstliche Intelligenz, Blockchain (= HTML Mitte der 1990er Jahre), Mixed Reality (= MultiTouch Mitte der 2010er Jahre), 3D Druck oder Autonomen Systemen zu tun hat. Das Wirkungspotenzial dieser Technologieplattformen ist hoch, die Anzahl der Akquisitionen von Jungunternehmen durch Digitalunternehmen zieht an und die amerikanischen und chinesischen Risikokapitalinvestitionen in die jeweiligen Spaces erreichen jedes Jahr neue Höchststände (2017 wurden global 170 Milliarden US Dollar an Risikokapital ausgeschüttet; in der Dot-Com Phase waren es 87 Milliarden US Dollar). Allerdings befinden sich die wirklich relevanten Anwendungen und Infrastrukturen gerade erst in der Entwicklung oder wurden
noch nicht erfunden. Beziehungsweise sehen sie in ihrer Frühphase möglicherweise aus wie ein Spielzeug, dem wir keine relevante Bedeutung zuweisen (“Google erkennt Katzen und rote Autos auf Bildern”), welches aber in der nahen Zukunft Workflows und Routinen verändert (“Algorithmen erkennen Hautkrankheiten besser als Ärzte”) und mittelfristig ganze Branchen hervorbringen kann (“Machine Learning als Grundlage für autonomes Fahren”), weil die Infrastrukturen sich verbessert haben. Nur verbissene Nostalgiker wünschen sich deswegen den Anwendungsumfang oder die Verbindungsgeschwindigkeiten der ersten mobilen Endgeräte zurück.
Abbildung 3: Auf technologische Revolutionen folgen Phasen der Durchdringung und Adaption.
Eine valide Aussage darüber, wohin die digitale Reise geht, ist trotz aller Indikatoren nahezu unmöglich. Bei digitalen Geschäftsmodellen liegt das häufig in der Natur des Netzwerkeffektes: Die meisten kennen das Metcalfesche Telefonmodell, bei dem mit zunehmender Anzahl von Telefonen in einem Netzwerk der Mehrwert für jeden Nutzer steigt, die Seerosenmathematikaufgabe aus der Mittelstufe oder die Weizenkornlegende, die neben exponentiellen Effekten auch die Unerschöpflichkeit der Möglichkeiten und Partieverläufe im Schach versinnbildlicht.
In der Weizenkornlegende gewährte ein König einem Weisen einen freien Wunsch. Dieser wünschte sich Weizenkörner. Auf das erste Feld eines Schachbretts wollte er ein Korn, auf das zweite Feld das Doppelte, auf das dritte wiederum die doppelte Menge und so weiter. Der König akzeptierte, sah sich dann aber mit der Herausforderung konfrontiert, dass er für alle Felder des Schachbretts 18,45 Trillionen Weizenkörner oder 730 Mrd. Tonnen Weizen oder das 1200-fachen der weltweiten Weizenernte des Jahres 2004 aufbringen musste. Bei digitalen mehrseitigen Netzwerken ist das Wachstum zwar etwas komplizierter - mehrseitige positive wie negative Effekte fördern und hemmen das Wachstum in begrenzten Märkten - aber die Wachstumsprämisse bleibt die gleiche. Das Problem ist, dass wir kein Bauchgefühl für exponentielle Entwicklungen besitzen. Wir wurden in eine lineare Welt geboren und handeln maximal nach linearer Best- und Worstcase Maxime. Exponentielle Kurven (und damit explosionsartiger Erfolg)
sind uns fremd, weswegen Digitalunternehmen mit ihren immateriellen Vermögenswerten und wachsenden Communities schwer gegriffen werden können. Auch, weil Plattformwettbewerber sich häufig über Jahre unterhalb des eigenen linearen Wachstums entwickeln und deswegen nicht als Konkurrent wahrgenommen werden. So hat Spotify knapp 4 Jahre für 500.000 zahlende Nutzer benötigt (2010). Weitere 4 Jahre für 12 Millionen (2014) und erneut 4 Jahre, um 83 Millionen Nutzer zu erreichen (Juni 2018). Airbnb brauchte fast 36 Monate, um genügend Liquidität - Aktivität auf beiden Marktplatzseiten - auf ihrer Plattform aufzubauen, um überhaupt Anzeichen von Netzwerkeffekten zu erkennen. Die Wachstumsexplosion setzte aber ein und die Unternehmen wuchsen sprunghaft.
Digitalunternehmen hoffen auf eben solche Explosionsphänomene, die nachhaltigen Erfolg im Übermorgen versprechen, auch wenn sie dafür im Morgen Geld verbrennen. Mit Genügend Beharrlichkeit, Wissen über Veränderungen und Zugang zu nötigem Talent (und einfachem Risikokapital) sind sie in einer besseren Ausgangslage, als diejenigen, die auf veraltete Infrastrukturen und Anwendungen setzen.
Pocket Guide to Digital Transformation
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