Geisterarten
Neulich lernte ich das Konzept der “Geisterarten” kennen und seither lässt es mich nicht mehr los. Diese Wesen existieren, doch ihre Überlebenschancen sind verschwindend gering, denn die Welt, die sie einst bewohnten, hat sie längst überholt.
Die Klimakatastrophe ist ein monströses Biest. Ihre Komplexität entzieht sich unserem Verständnis, und die wahren Ausmaße der von uns verursachten Erwärmung haben wir noch nicht zu spüren bekommen. Auch, weil wir oft nur inkrementelle Entwicklungen wahrnehmen, aber nicht wahrhaben wollen, dass die Auswirkungen exponentiell und damit unvorhersehbar sind. Es beginnt mit einem Flackern, doch dann kippt das System dramatisch.
Unsere Unfähigkeit, dieser Entwicklung zu begegnen, spiegelt sich in den natürlichen Ökosystemen wider. Auch sie reagieren nur langsam auf die von uns verursachten globalen Veränderungen. Ein Wald mag sich nach einem Brand erholen, doch wiederholte Brände haben verheerende Konsequenzen für das gesamte Ökosystem und seine Arten.
Deshalb sprechen Ökologen nun von “Geisterarten”. Diese Spezies, wie Robert Macfarlane, einer meiner Lieblingsautoren im Bereich Nature Writing, beschreibt, wurden von ihrer Umwelt überholt. Sie existieren noch, haben jedoch kaum Überlebenschancen.
Wir kennen sie alle. Meeresschildkröten, Wüstenbighornschafe, Tiger, Sägefische, Nassau-Zackenbarsch und Bergsternkorallen — einst als natürlich wahrgenommen, sind sie nun Geister ihrer selbst. Oder auch die vertrauten Arten aus unserer Kindheit, die wir alle noch als natürlich wahrgenommen haben, verschwinden nach und nach. Das Shifting Baseline Syndrom lässt grüßen.
Wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Die Natur zu bewahren und zu regenerieren ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Es gibt kein Business-as-usual mehr, denn es hat uns in diese Misere geführt. Was heute die Ausnahme ist, wird bald die Regel sein.
Nur weil wir in der Vergangenheit keine ökologischen Katastrophen erlebt haben, heißt das nicht, dass sie nicht möglich sind. Wir müssen das Szenario vermeiden, das Ned Beauman in “Der Gemeine Lumpfisch” beschreibt (hier als Audiobuch in der ARD Audiothek), in dem die Ausrottung von Geisterarten zum Big Business wird, indem Unternehmen mit Auslöschungszertifikaten handeln, die sie je nach Intelligenz der Spezies zum Hochpreis verkaufen können und die ihnen damit Ablass für ausbeuterischen Prozesse versprechen.
Noch ist es nicht zu spät. Alles, was wir heute nicht erhalten, wird verloren gehen. Deswegen müssen wir ehrlich sein.Wir müssen aufhören, falsche Zukünfte zu verkaufen. Wir müssen handeln. Wir müssen der Natur ihren Wert zurückgeben. Jetzt 🌱
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